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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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forderungen, denen zartbesaitete Naturen nicht gewachsen sind; das Nerven¬
system der Frau hat aber keine besondre Widerstandsfähigkeit, denn jeder er¬
fahrne Arzt weiß, daß gerade die funktionellen Störungen des Nerven- und
Seelenlebens bei dem weiblichen Geschlecht unendlich viel häufiger auftreten
als beim Manne, obwohl dieser im Kampf um das Dasein gewöhnlich viel
größern Schädlichkeiten ausgesetzt ist. Ferner ist noch zu bedenken, daß das
Studium der Medizin bei der Überfüllung des ärztlichen Standes kaum noch
als ein Brotstudium anzusehn ist. Krankenkassen und ärztliche Bereine, diese
mit ihren nicht immer ganz einwandfreien Satzungen, sorgen dafür, daß
gerade in den großen Städten, die für Frauen hauptsächlich in Betracht
kommen würden, schon jetzt dem jungen Arzte der Anfang recht schwer gemacht
wird. Der "weibliche Doktor" wird aber noch mit besondern Schwierigkeiten
zu kämpfen haben, und es läßt sich daher die Annahme nicht von der Hand
weisen, daß das zum Studium erforderliche hohe Anlagekapital der Frau in
jedem andern Beruf eine sichrere Existenz schaffen dürfte, als gerade in der
Medizin.

Der Bericht nun, den die "Berliner Neuesten Nachrichten" über die
Plauderei des Herrn Schweninger in München bringen, ist so merkwürdig,
daß man den Inhalt für unglaublich halten würde, wenn nicht bei den Be¬
ziehungen jener Zeitung ein Irrtum völlig ausgeschlossen wäre. Man kann
nur annehmen, daß der Herr Professor in München, wo nach seiner eignen
Äußerung seine ärztliche Wiege gestanden hat, infolge der auf ihn einströmenden
Erinnerungen geistig nicht besonders disponirt gewesen ist. Wenn diese Herrn
Schweninger zweifellos sehr wohlgesinnte Zeitung am Kopf ihres ausführlichen
Berichts die Auseinandersetzung mit dem anwesenden Professor Soxhlet be¬
sonders hervorhebt, so verstehen wir das am allerwenigsten, denn was der
Geheimrat gegen Soxhlet über die Kinderernährung vorgebracht hat, das war
der Kampf der Finsternis gegen das Licht! schroffer als sonst müssen dem
Vortragenden in München die Worte über die Lippen gesprudelt sein.
Sehr scharf wurde wieder die Schulmedizin mitgenommen und dazu die
cirmeu Ärzte, die unter Umständen ärgere Pfuscher sein sollen als die Heil¬
kundigen, die sonst dafür ausgegeben werden. Wir wollen mit dem Herrn
Geheimrat nicht rechten wegen dieses Ausspruches, der jedenfalls bei allen
gewerbsmäßigen Kurpfuschern die vollste Billigung finden wird; denn ihr
Geschäft bringt es ja mit sich, die approbirten und unter Staatsaufsicht aus¬
gebildeten Ärzte in den Augen des Publikums möglichst herabzusetzen. Aber
schön ist es nicht, so von Kollegen zu sprechen, besonders wenn keinerlei Ver¬
anlassung zu einem solchen Ausfall vorliegt! Pfuscher kommen allerdings
auch unter den Ärzten vor, und Pfuscher siud alle die zu nennen, die den
Boden der exakten Wissenschaft verlassen haben, über die Grenzen des Wissens
hinausgehen und vorgeben, alles heilen zu können!


forderungen, denen zartbesaitete Naturen nicht gewachsen sind; das Nerven¬
system der Frau hat aber keine besondre Widerstandsfähigkeit, denn jeder er¬
fahrne Arzt weiß, daß gerade die funktionellen Störungen des Nerven- und
Seelenlebens bei dem weiblichen Geschlecht unendlich viel häufiger auftreten
als beim Manne, obwohl dieser im Kampf um das Dasein gewöhnlich viel
größern Schädlichkeiten ausgesetzt ist. Ferner ist noch zu bedenken, daß das
Studium der Medizin bei der Überfüllung des ärztlichen Standes kaum noch
als ein Brotstudium anzusehn ist. Krankenkassen und ärztliche Bereine, diese
mit ihren nicht immer ganz einwandfreien Satzungen, sorgen dafür, daß
gerade in den großen Städten, die für Frauen hauptsächlich in Betracht
kommen würden, schon jetzt dem jungen Arzte der Anfang recht schwer gemacht
wird. Der „weibliche Doktor" wird aber noch mit besondern Schwierigkeiten
zu kämpfen haben, und es läßt sich daher die Annahme nicht von der Hand
weisen, daß das zum Studium erforderliche hohe Anlagekapital der Frau in
jedem andern Beruf eine sichrere Existenz schaffen dürfte, als gerade in der
Medizin.

Der Bericht nun, den die „Berliner Neuesten Nachrichten" über die
Plauderei des Herrn Schweninger in München bringen, ist so merkwürdig,
daß man den Inhalt für unglaublich halten würde, wenn nicht bei den Be¬
ziehungen jener Zeitung ein Irrtum völlig ausgeschlossen wäre. Man kann
nur annehmen, daß der Herr Professor in München, wo nach seiner eignen
Äußerung seine ärztliche Wiege gestanden hat, infolge der auf ihn einströmenden
Erinnerungen geistig nicht besonders disponirt gewesen ist. Wenn diese Herrn
Schweninger zweifellos sehr wohlgesinnte Zeitung am Kopf ihres ausführlichen
Berichts die Auseinandersetzung mit dem anwesenden Professor Soxhlet be¬
sonders hervorhebt, so verstehen wir das am allerwenigsten, denn was der
Geheimrat gegen Soxhlet über die Kinderernährung vorgebracht hat, das war
der Kampf der Finsternis gegen das Licht! schroffer als sonst müssen dem
Vortragenden in München die Worte über die Lippen gesprudelt sein.
Sehr scharf wurde wieder die Schulmedizin mitgenommen und dazu die
cirmeu Ärzte, die unter Umständen ärgere Pfuscher sein sollen als die Heil¬
kundigen, die sonst dafür ausgegeben werden. Wir wollen mit dem Herrn
Geheimrat nicht rechten wegen dieses Ausspruches, der jedenfalls bei allen
gewerbsmäßigen Kurpfuschern die vollste Billigung finden wird; denn ihr
Geschäft bringt es ja mit sich, die approbirten und unter Staatsaufsicht aus¬
gebildeten Ärzte in den Augen des Publikums möglichst herabzusetzen. Aber
schön ist es nicht, so von Kollegen zu sprechen, besonders wenn keinerlei Ver¬
anlassung zu einem solchen Ausfall vorliegt! Pfuscher kommen allerdings
auch unter den Ärzten vor, und Pfuscher siud alle die zu nennen, die den
Boden der exakten Wissenschaft verlassen haben, über die Grenzen des Wissens
hinausgehen und vorgeben, alles heilen zu können!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/652>, abgerufen am 09.01.2025.