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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Die Bibel

eine arme Judenfrau begeistert ausruft: Von nun an werden mich selig preisen
alle Geschlechter, so muß jeder "verstündige" Mann, der das vernommen hat,
sie für wahnsinnig gehalten haben, aber siehe da! ihr Wort erfüllt sich nun
schon ins neunzehnhundertste Jahr! Nicht anders steht es um das Wort, das
nach Matth. 26. 13 Christus von dem Weibe sagte, die ihn salbte: Wo
immer man in der ganzen Welt dieses Evangelium verkünden wird, da wird
man auch zu ihrem Andenken sagen, was sie gethan hat. Wie konnte jemand
wissen, daß gerade diese Erzählung die Jahrtausende überdauern werde? Sind
nicht ganze große Werke berühmter Männer, die von ihren Zeitgenossen für
unsterblich erklärt wurden, vernichtet worden? Und das allergrößte! "In
den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn erhöht sein über alle
Berge; und zu ihm strömen werden alle Nationen; und viele Völker werden
gehen und sagen: Kommt, laßt uns hinaufsteigen auf Jehovas Berg, zum Hause
des Gottes Jakob, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln auf seinen
Pfaden; denn von Sion geht aus das Gesetz, und das Wort des Herrn von
Jerusalem." Hat sich das etwa nicht zu erfüllen angefangen, achthundert
Jahre nachdem es Jesajas gesprochen, und geht es nicht in Erfüllung bis auf
den heutigen Tag? Alle andern Kennzeichen der Göttlichkeit der Bibel sind
subjektiv; dem einen scheinen sie sicher, auf den andern machen sie keinen Ein¬
druck; die Erfüllung der Weissagungen dagegen ist etwas so objektives wie eine
Inschrift im Stein.

Für subjektiv wird es auch schon erklärt werden, wenn ich gestehe, daß ich
den biblischen Personen glauben muß, die erzählen, wie sie mit Gott gesprochen
haben, und wie Gott zu ihnen gesprochen hat. Diese Theophanien machen niemals
den Eindruck des Kindischen oder Fabelhaften, wie die Visionen, die in andern
Büchern vorkommen. Ich bin einer der am wenigsten mystischen Menschen, die
es giebt, habe niemals Erscheinungen gehabt und halte den ganzen Spiritismus
für Humbug. Aber ich sage mir: unsre irdische Welt ist nicht denkbar ohne
eine metaphysische Welt, in der sie wurzelt, und in der auch das Ziel und die
Vollendung des Menschengeschlechts liegen muß, und wenn das der Fall ist,
dann muß es wenigstens einige Mystiker geben: außerordentliche Menschen,
die ein Organ haben zur Wahrnehmung des Jenseits. Wie diese Wahr¬
nehmung zu denken sei, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf; denn wem
dieser sechste Sinn fehlt, der kaun sich von den Wahrnehmungen, die er ver¬
mittelt, so wenig eine Vorstellung machen, wie der Blinde von der Farbe und
der Taube vom Ton. Solche Mystiker sind es nun, die uns übrige Menschen,
uns Weltlinge. mit dem Jenseits verknüpfen, sodaß die beiden Daseinshülften
nicht ganz aus einander fallen und die irdische Welt sich nicht ins leere Nichts
verliert. Und so glaube ich denn, daß Gott mit den Stammhäuptern des
auserwählten Volks gewandelt ist und mit Moses geredet hat. Wenn ein
Prophet des Herrn, so spricht er zu Aaron und Mirjam, die sich wider den
Bruder aufgelehnt hatten, "unter euch ersteht, so werde ich mich ihm in einer
Erscheinung offenbaren oder im Traume zu ihm reden. Nicht so mit meinem
Knechte Moses, der treu erfunden worden ist in meinem ganzen Hause; mit
dem rede ich von Mund zu Mund; nicht in Rätseln und Bildern sieht er den
Herrn, sondern unmittelbar" (4. Mose 12, 6). Allerdings nur "von hinten."
Denn als Moses den Herrn gebeten hatte: Zeige mir deine Herrlichkeit, da
sprach Gott: "Mein Antlitz kannst du nicht sehen; nicht kann mich ein Mensch
sehen und leben; aber stelle dich auf diesen Felsen; im Vorüberziehen werde


Die Bibel

eine arme Judenfrau begeistert ausruft: Von nun an werden mich selig preisen
alle Geschlechter, so muß jeder „verstündige" Mann, der das vernommen hat,
sie für wahnsinnig gehalten haben, aber siehe da! ihr Wort erfüllt sich nun
schon ins neunzehnhundertste Jahr! Nicht anders steht es um das Wort, das
nach Matth. 26. 13 Christus von dem Weibe sagte, die ihn salbte: Wo
immer man in der ganzen Welt dieses Evangelium verkünden wird, da wird
man auch zu ihrem Andenken sagen, was sie gethan hat. Wie konnte jemand
wissen, daß gerade diese Erzählung die Jahrtausende überdauern werde? Sind
nicht ganze große Werke berühmter Männer, die von ihren Zeitgenossen für
unsterblich erklärt wurden, vernichtet worden? Und das allergrößte! „In
den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn erhöht sein über alle
Berge; und zu ihm strömen werden alle Nationen; und viele Völker werden
gehen und sagen: Kommt, laßt uns hinaufsteigen auf Jehovas Berg, zum Hause
des Gottes Jakob, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln auf seinen
Pfaden; denn von Sion geht aus das Gesetz, und das Wort des Herrn von
Jerusalem." Hat sich das etwa nicht zu erfüllen angefangen, achthundert
Jahre nachdem es Jesajas gesprochen, und geht es nicht in Erfüllung bis auf
den heutigen Tag? Alle andern Kennzeichen der Göttlichkeit der Bibel sind
subjektiv; dem einen scheinen sie sicher, auf den andern machen sie keinen Ein¬
druck; die Erfüllung der Weissagungen dagegen ist etwas so objektives wie eine
Inschrift im Stein.

Für subjektiv wird es auch schon erklärt werden, wenn ich gestehe, daß ich
den biblischen Personen glauben muß, die erzählen, wie sie mit Gott gesprochen
haben, und wie Gott zu ihnen gesprochen hat. Diese Theophanien machen niemals
den Eindruck des Kindischen oder Fabelhaften, wie die Visionen, die in andern
Büchern vorkommen. Ich bin einer der am wenigsten mystischen Menschen, die
es giebt, habe niemals Erscheinungen gehabt und halte den ganzen Spiritismus
für Humbug. Aber ich sage mir: unsre irdische Welt ist nicht denkbar ohne
eine metaphysische Welt, in der sie wurzelt, und in der auch das Ziel und die
Vollendung des Menschengeschlechts liegen muß, und wenn das der Fall ist,
dann muß es wenigstens einige Mystiker geben: außerordentliche Menschen,
die ein Organ haben zur Wahrnehmung des Jenseits. Wie diese Wahr¬
nehmung zu denken sei, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf; denn wem
dieser sechste Sinn fehlt, der kaun sich von den Wahrnehmungen, die er ver¬
mittelt, so wenig eine Vorstellung machen, wie der Blinde von der Farbe und
der Taube vom Ton. Solche Mystiker sind es nun, die uns übrige Menschen,
uns Weltlinge. mit dem Jenseits verknüpfen, sodaß die beiden Daseinshülften
nicht ganz aus einander fallen und die irdische Welt sich nicht ins leere Nichts
verliert. Und so glaube ich denn, daß Gott mit den Stammhäuptern des
auserwählten Volks gewandelt ist und mit Moses geredet hat. Wenn ein
Prophet des Herrn, so spricht er zu Aaron und Mirjam, die sich wider den
Bruder aufgelehnt hatten, „unter euch ersteht, so werde ich mich ihm in einer
Erscheinung offenbaren oder im Traume zu ihm reden. Nicht so mit meinem
Knechte Moses, der treu erfunden worden ist in meinem ganzen Hause; mit
dem rede ich von Mund zu Mund; nicht in Rätseln und Bildern sieht er den
Herrn, sondern unmittelbar" (4. Mose 12, 6). Allerdings nur „von hinten."
Denn als Moses den Herrn gebeten hatte: Zeige mir deine Herrlichkeit, da
sprach Gott: „Mein Antlitz kannst du nicht sehen; nicht kann mich ein Mensch
sehen und leben; aber stelle dich auf diesen Felsen; im Vorüberziehen werde


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[0607] Die Bibel eine arme Judenfrau begeistert ausruft: Von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter, so muß jeder „verstündige" Mann, der das vernommen hat, sie für wahnsinnig gehalten haben, aber siehe da! ihr Wort erfüllt sich nun schon ins neunzehnhundertste Jahr! Nicht anders steht es um das Wort, das nach Matth. 26. 13 Christus von dem Weibe sagte, die ihn salbte: Wo immer man in der ganzen Welt dieses Evangelium verkünden wird, da wird man auch zu ihrem Andenken sagen, was sie gethan hat. Wie konnte jemand wissen, daß gerade diese Erzählung die Jahrtausende überdauern werde? Sind nicht ganze große Werke berühmter Männer, die von ihren Zeitgenossen für unsterblich erklärt wurden, vernichtet worden? Und das allergrößte! „In den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn erhöht sein über alle Berge; und zu ihm strömen werden alle Nationen; und viele Völker werden gehen und sagen: Kommt, laßt uns hinaufsteigen auf Jehovas Berg, zum Hause des Gottes Jakob, daß er uns lehre seine Wege, und wir wandeln auf seinen Pfaden; denn von Sion geht aus das Gesetz, und das Wort des Herrn von Jerusalem." Hat sich das etwa nicht zu erfüllen angefangen, achthundert Jahre nachdem es Jesajas gesprochen, und geht es nicht in Erfüllung bis auf den heutigen Tag? Alle andern Kennzeichen der Göttlichkeit der Bibel sind subjektiv; dem einen scheinen sie sicher, auf den andern machen sie keinen Ein¬ druck; die Erfüllung der Weissagungen dagegen ist etwas so objektives wie eine Inschrift im Stein. Für subjektiv wird es auch schon erklärt werden, wenn ich gestehe, daß ich den biblischen Personen glauben muß, die erzählen, wie sie mit Gott gesprochen haben, und wie Gott zu ihnen gesprochen hat. Diese Theophanien machen niemals den Eindruck des Kindischen oder Fabelhaften, wie die Visionen, die in andern Büchern vorkommen. Ich bin einer der am wenigsten mystischen Menschen, die es giebt, habe niemals Erscheinungen gehabt und halte den ganzen Spiritismus für Humbug. Aber ich sage mir: unsre irdische Welt ist nicht denkbar ohne eine metaphysische Welt, in der sie wurzelt, und in der auch das Ziel und die Vollendung des Menschengeschlechts liegen muß, und wenn das der Fall ist, dann muß es wenigstens einige Mystiker geben: außerordentliche Menschen, die ein Organ haben zur Wahrnehmung des Jenseits. Wie diese Wahr¬ nehmung zu denken sei, darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf; denn wem dieser sechste Sinn fehlt, der kaun sich von den Wahrnehmungen, die er ver¬ mittelt, so wenig eine Vorstellung machen, wie der Blinde von der Farbe und der Taube vom Ton. Solche Mystiker sind es nun, die uns übrige Menschen, uns Weltlinge. mit dem Jenseits verknüpfen, sodaß die beiden Daseinshülften nicht ganz aus einander fallen und die irdische Welt sich nicht ins leere Nichts verliert. Und so glaube ich denn, daß Gott mit den Stammhäuptern des auserwählten Volks gewandelt ist und mit Moses geredet hat. Wenn ein Prophet des Herrn, so spricht er zu Aaron und Mirjam, die sich wider den Bruder aufgelehnt hatten, „unter euch ersteht, so werde ich mich ihm in einer Erscheinung offenbaren oder im Traume zu ihm reden. Nicht so mit meinem Knechte Moses, der treu erfunden worden ist in meinem ganzen Hause; mit dem rede ich von Mund zu Mund; nicht in Rätseln und Bildern sieht er den Herrn, sondern unmittelbar" (4. Mose 12, 6). Allerdings nur „von hinten." Denn als Moses den Herrn gebeten hatte: Zeige mir deine Herrlichkeit, da sprach Gott: „Mein Antlitz kannst du nicht sehen; nicht kann mich ein Mensch sehen und leben; aber stelle dich auf diesen Felsen; im Vorüberziehen werde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/607>, abgerufen am 08.01.2025.