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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

walten zu lassen und dahin zu wirken, daß so weit wie möglich ein gegen¬
seitiges Auskommen erzielt werde. Wir hätten bei dem großen Aufstand in
England gesehen, in welchen ruhigen, gesetzlichen Formen er trotz der größten
Gegensätze verlaufen sei. Zum Schluß hätten die Unternehmer sogar freiwillig
als Gentlemen größere Konzessionen gemacht, als sie, die Sieger, zu machen
nötig gehabt hätten. Aber das helfe doch alles nichts: auch die Gewerkvereine
seien eine Illusion! Ihnen gegenüber hätte sich die eisengepanzerte Phalanx
der Unternehmervereinigungen gebildet, und diese seien doch schließlich mächtiger
als die Arbeiter und ihre "Addition von Nullen." Die Gewerkvereine könnten
nicht an gegen das dauernde Fallen der Löhne, gegen revolutionäre Verände¬
rungen der Technik und der Mode, gegen das Unterbieten des Auslands, die
Erscheinungen der Kapitalassoziation usw. "Redner betont schließlich, heißt es
in dem Bericht, daß es nicht seine Absicht sei, zum Pessimismus aufzufordern,
sondern er wolle zum sozialen Kritizismus anregen. Wenn wir auf sozialem
Gebiete Erfolge erzielen wollen, müssen wir die ganze Tragik kennen lernen."
Aber fragt mich nur nicht wie! -- das hat Herr Professor Reinhold seinen
Beifall spendenden Zuhörern zwar nicht gesagt, aber er Hütte es ihnen eigent¬
lich sagen müssen. Der Kritizismus, zu dem er anregen wollte, als das ein¬
zige Positive, ist doch nicht gerade das aufklärende, alle Zweifel lösende
Wort, nach dem man sich sehnt. Und was er sonst noch gesagt hat, erst recht
nicht, obwohl das eigentlich, wie es scheint, die Quintessenz des Vortrcigs sein
sollte, nämlich folgendes: Bei der wissenschaftlichen Erforschung habe man zu
erwägen, wie weit die einzelnen Formen der sozialen Bestrebungen von dem
egoistischen Prinzip beherrscht würden. Mit einer Predigt über Brüderlichkeit
erziele man keine Erfolge. Wer glaube, mit Brüderlichkeit oder Liebe wesent¬
liche Erfolge auf sozialem Gebiete zu erringen, stehe im Gegensatz zu den Er¬
fahrungen der Jahrtausende. Von der Behandlung der Arbeiter als nicht
Gleichberechtigter müsse auch bei uns abgegangen werden, dann könne auch der
rücksichtslose, kalte, wirtschaftliche Egoismus bestehen bleiben. Auf dem Wirt¬
schaftsgebiet seien die Engländer uns immer noch überlegen. Ein englischer
Schiedsmann habe die Unternehmer davor gewarnt, die Menschlichkeit bei ihren
Verhandlungen mit sprechen zu lassen und von den rein wirtschaftlichen Rück¬
sichten abzugehen. Der das gesprochen habe, sei ein humaner christlicher Mann
gewesen, der in der wahren Erkenntnis der Ziele gesprochen habe, die der
menschlichen Gesellschaft im wirtschaftlichen Leben gesteckt seien. Auch nach
Rechtssätzen sei das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die Ver¬
teilung des Prvduktionsertrags nicht bestimmt, sondern es sei ein Arbeitsver¬
hältnis gemäß der gegenwärtigen Machtlage. Hinter dem Recht auf Arbeit
stehe die Proklamirung des sozialistischen Staats.

Man könnte zunächst Herrn Professor Reinhold fragen, wie er dazu komme,
den Unternehmern den Gewerkvereinen gegenüber ein Aufgeben ihrer gegen-


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

walten zu lassen und dahin zu wirken, daß so weit wie möglich ein gegen¬
seitiges Auskommen erzielt werde. Wir hätten bei dem großen Aufstand in
England gesehen, in welchen ruhigen, gesetzlichen Formen er trotz der größten
Gegensätze verlaufen sei. Zum Schluß hätten die Unternehmer sogar freiwillig
als Gentlemen größere Konzessionen gemacht, als sie, die Sieger, zu machen
nötig gehabt hätten. Aber das helfe doch alles nichts: auch die Gewerkvereine
seien eine Illusion! Ihnen gegenüber hätte sich die eisengepanzerte Phalanx
der Unternehmervereinigungen gebildet, und diese seien doch schließlich mächtiger
als die Arbeiter und ihre „Addition von Nullen." Die Gewerkvereine könnten
nicht an gegen das dauernde Fallen der Löhne, gegen revolutionäre Verände¬
rungen der Technik und der Mode, gegen das Unterbieten des Auslands, die
Erscheinungen der Kapitalassoziation usw. „Redner betont schließlich, heißt es
in dem Bericht, daß es nicht seine Absicht sei, zum Pessimismus aufzufordern,
sondern er wolle zum sozialen Kritizismus anregen. Wenn wir auf sozialem
Gebiete Erfolge erzielen wollen, müssen wir die ganze Tragik kennen lernen."
Aber fragt mich nur nicht wie! — das hat Herr Professor Reinhold seinen
Beifall spendenden Zuhörern zwar nicht gesagt, aber er Hütte es ihnen eigent¬
lich sagen müssen. Der Kritizismus, zu dem er anregen wollte, als das ein¬
zige Positive, ist doch nicht gerade das aufklärende, alle Zweifel lösende
Wort, nach dem man sich sehnt. Und was er sonst noch gesagt hat, erst recht
nicht, obwohl das eigentlich, wie es scheint, die Quintessenz des Vortrcigs sein
sollte, nämlich folgendes: Bei der wissenschaftlichen Erforschung habe man zu
erwägen, wie weit die einzelnen Formen der sozialen Bestrebungen von dem
egoistischen Prinzip beherrscht würden. Mit einer Predigt über Brüderlichkeit
erziele man keine Erfolge. Wer glaube, mit Brüderlichkeit oder Liebe wesent¬
liche Erfolge auf sozialem Gebiete zu erringen, stehe im Gegensatz zu den Er¬
fahrungen der Jahrtausende. Von der Behandlung der Arbeiter als nicht
Gleichberechtigter müsse auch bei uns abgegangen werden, dann könne auch der
rücksichtslose, kalte, wirtschaftliche Egoismus bestehen bleiben. Auf dem Wirt¬
schaftsgebiet seien die Engländer uns immer noch überlegen. Ein englischer
Schiedsmann habe die Unternehmer davor gewarnt, die Menschlichkeit bei ihren
Verhandlungen mit sprechen zu lassen und von den rein wirtschaftlichen Rück¬
sichten abzugehen. Der das gesprochen habe, sei ein humaner christlicher Mann
gewesen, der in der wahren Erkenntnis der Ziele gesprochen habe, die der
menschlichen Gesellschaft im wirtschaftlichen Leben gesteckt seien. Auch nach
Rechtssätzen sei das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die Ver¬
teilung des Prvduktionsertrags nicht bestimmt, sondern es sei ein Arbeitsver¬
hältnis gemäß der gegenwärtigen Machtlage. Hinter dem Recht auf Arbeit
stehe die Proklamirung des sozialistischen Staats.

Man könnte zunächst Herrn Professor Reinhold fragen, wie er dazu komme,
den Unternehmern den Gewerkvereinen gegenüber ein Aufgeben ihrer gegen-


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[0578] Doktrinarismus in der Sozialpolitik walten zu lassen und dahin zu wirken, daß so weit wie möglich ein gegen¬ seitiges Auskommen erzielt werde. Wir hätten bei dem großen Aufstand in England gesehen, in welchen ruhigen, gesetzlichen Formen er trotz der größten Gegensätze verlaufen sei. Zum Schluß hätten die Unternehmer sogar freiwillig als Gentlemen größere Konzessionen gemacht, als sie, die Sieger, zu machen nötig gehabt hätten. Aber das helfe doch alles nichts: auch die Gewerkvereine seien eine Illusion! Ihnen gegenüber hätte sich die eisengepanzerte Phalanx der Unternehmervereinigungen gebildet, und diese seien doch schließlich mächtiger als die Arbeiter und ihre „Addition von Nullen." Die Gewerkvereine könnten nicht an gegen das dauernde Fallen der Löhne, gegen revolutionäre Verände¬ rungen der Technik und der Mode, gegen das Unterbieten des Auslands, die Erscheinungen der Kapitalassoziation usw. „Redner betont schließlich, heißt es in dem Bericht, daß es nicht seine Absicht sei, zum Pessimismus aufzufordern, sondern er wolle zum sozialen Kritizismus anregen. Wenn wir auf sozialem Gebiete Erfolge erzielen wollen, müssen wir die ganze Tragik kennen lernen." Aber fragt mich nur nicht wie! — das hat Herr Professor Reinhold seinen Beifall spendenden Zuhörern zwar nicht gesagt, aber er Hütte es ihnen eigent¬ lich sagen müssen. Der Kritizismus, zu dem er anregen wollte, als das ein¬ zige Positive, ist doch nicht gerade das aufklärende, alle Zweifel lösende Wort, nach dem man sich sehnt. Und was er sonst noch gesagt hat, erst recht nicht, obwohl das eigentlich, wie es scheint, die Quintessenz des Vortrcigs sein sollte, nämlich folgendes: Bei der wissenschaftlichen Erforschung habe man zu erwägen, wie weit die einzelnen Formen der sozialen Bestrebungen von dem egoistischen Prinzip beherrscht würden. Mit einer Predigt über Brüderlichkeit erziele man keine Erfolge. Wer glaube, mit Brüderlichkeit oder Liebe wesent¬ liche Erfolge auf sozialem Gebiete zu erringen, stehe im Gegensatz zu den Er¬ fahrungen der Jahrtausende. Von der Behandlung der Arbeiter als nicht Gleichberechtigter müsse auch bei uns abgegangen werden, dann könne auch der rücksichtslose, kalte, wirtschaftliche Egoismus bestehen bleiben. Auf dem Wirt¬ schaftsgebiet seien die Engländer uns immer noch überlegen. Ein englischer Schiedsmann habe die Unternehmer davor gewarnt, die Menschlichkeit bei ihren Verhandlungen mit sprechen zu lassen und von den rein wirtschaftlichen Rück¬ sichten abzugehen. Der das gesprochen habe, sei ein humaner christlicher Mann gewesen, der in der wahren Erkenntnis der Ziele gesprochen habe, die der menschlichen Gesellschaft im wirtschaftlichen Leben gesteckt seien. Auch nach Rechtssätzen sei das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die Ver¬ teilung des Prvduktionsertrags nicht bestimmt, sondern es sei ein Arbeitsver¬ hältnis gemäß der gegenwärtigen Machtlage. Hinter dem Recht auf Arbeit stehe die Proklamirung des sozialistischen Staats. Man könnte zunächst Herrn Professor Reinhold fragen, wie er dazu komme, den Unternehmern den Gewerkvereinen gegenüber ein Aufgeben ihrer gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/578>, abgerufen am 08.01.2025.