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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

sützlichen Stellung, das heißt doch ein Aufgeben des rücksichtslosen, kalten,
wirtschaftlichen Egoismus, zu empfehlen, wenn er diesen Egoismus als das im
wirtschaftlichen Leben allein zur Herrschaft berufne Prinzip hinstellt. Aber
es kommt auf diese kleine Inkonsequenz im Vergleich mit dem ungeheuer große"
Irrtum, zu dessen Apostel sich der Vortragende -- immer die Zuverlässigkeit
unsrer Quelle vorausgesetzt -- gemacht hat, so wenig an, daß man sie beiseite
lassen kann. Die Hauptsache ist, daß wir hier die Quintessenz des orthodoxen
deutscheu Manchestertums der Herren Schulze-Delitzsch und Genossen, in einer
Art von wissenschaftlicher Brühe neu aufgekocht, vorgesetzt bekommen, in ihrer
ganzen bestrickenden Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit, aber auch in ihrer
ganzen Unfruchtbarkeit und Gefährlichkeit. Der "Reichsbote" hat recht, wenn
er gegen diese neue, sehr verschlechterte Auflage der sogenannten klassischen
Nationalökonomie nachdrücklichst Verwahrung einlegt als "die Anschauung des
Materialismus, wie sie bei dem Manchcstertum auf der eine" und der sozial-
revolutionären Sozialdemokratie auf der andern Seite herrscht"; nur vergißt
er dabei in christlich-sozialer Befangenheit hinzuzufügen: leider auch bei dem
Staats- und Kathedersozialismus der zur Zeit herrschenden Schule auf der
dritten Seite.

Nach der Ansicht des Manchestertums, wie sie Reinhold hier scheinbar
vertritt, kann in wirtschaftlichen Dingen und damit in dem Hauptteil der sozialen
Fragen weder die Liebe, die Brüderlichkeit, die Menschlichkeit noch das Recht
etwas helfen, also weder die sittliche Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den
Einzelnen, noch die unter Umständen mit Gewalt zu erzwingende Erfüllung
der durch Gesetz und Verordnung vom Staat vorgeschriebnen Rechtsscitzc.
Was die Rechtssütze anlangt, d. h. die sozialpolitische Aufgabe und Fähigkeit
des Staats überhaupt, so stehen die Anschauungen des Manchestertums zu
denen der Staats- und Kathedersozialisten im schroffsten Widerspruch, von der
Stellung der Sozialdemokratie hier vorläufig ganz abgesehen. Das Manchcster¬
tum bestreitet dem Staat die Aufgabe und die Fähigkeit, in seiner Rechtsord¬
nung die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu beeinflussen, insbesondre
nach sittlichen Grundsätzen. Der Staats- und Kathedersozialismus ist stolz
darauf, dem Staat diese Aufgabe und diese Fähigkeit wieder zugesprochen zu
haben, und er bedeutet in dieser Beziehung an sich entschieden einen großen
Fortschritt. Aber leider ist man aus einem Extrem ins andre geraten. Beide
Extreme sind falsch, unvernünftig und gefährlich. So falsch es ist, den Kultur-
staat zum Nachtwächterstaat zu degradiren, ebenso falsch ist es, die Sittlichkeit,
die Nächstenliebe, das praktische Christentum verstaatlichen zu wollen. Stehen
sich wegen der Aufgabe und Fähigkeit des Staats Mauchestertum, Staats¬
und Kathedersozialismus schroff gegenüber, so sind sie wegen der sozialen
Bedeutung der sittlichen Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen
und diese Pflichterfüllung, die persönliche und individuelle, ist im eigene-


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

sützlichen Stellung, das heißt doch ein Aufgeben des rücksichtslosen, kalten,
wirtschaftlichen Egoismus, zu empfehlen, wenn er diesen Egoismus als das im
wirtschaftlichen Leben allein zur Herrschaft berufne Prinzip hinstellt. Aber
es kommt auf diese kleine Inkonsequenz im Vergleich mit dem ungeheuer große»
Irrtum, zu dessen Apostel sich der Vortragende — immer die Zuverlässigkeit
unsrer Quelle vorausgesetzt — gemacht hat, so wenig an, daß man sie beiseite
lassen kann. Die Hauptsache ist, daß wir hier die Quintessenz des orthodoxen
deutscheu Manchestertums der Herren Schulze-Delitzsch und Genossen, in einer
Art von wissenschaftlicher Brühe neu aufgekocht, vorgesetzt bekommen, in ihrer
ganzen bestrickenden Oberflächlichkeit und Bequemlichkeit, aber auch in ihrer
ganzen Unfruchtbarkeit und Gefährlichkeit. Der „Reichsbote" hat recht, wenn
er gegen diese neue, sehr verschlechterte Auflage der sogenannten klassischen
Nationalökonomie nachdrücklichst Verwahrung einlegt als „die Anschauung des
Materialismus, wie sie bei dem Manchcstertum auf der eine« und der sozial-
revolutionären Sozialdemokratie auf der andern Seite herrscht"; nur vergißt
er dabei in christlich-sozialer Befangenheit hinzuzufügen: leider auch bei dem
Staats- und Kathedersozialismus der zur Zeit herrschenden Schule auf der
dritten Seite.

Nach der Ansicht des Manchestertums, wie sie Reinhold hier scheinbar
vertritt, kann in wirtschaftlichen Dingen und damit in dem Hauptteil der sozialen
Fragen weder die Liebe, die Brüderlichkeit, die Menschlichkeit noch das Recht
etwas helfen, also weder die sittliche Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den
Einzelnen, noch die unter Umständen mit Gewalt zu erzwingende Erfüllung
der durch Gesetz und Verordnung vom Staat vorgeschriebnen Rechtsscitzc.
Was die Rechtssütze anlangt, d. h. die sozialpolitische Aufgabe und Fähigkeit
des Staats überhaupt, so stehen die Anschauungen des Manchestertums zu
denen der Staats- und Kathedersozialisten im schroffsten Widerspruch, von der
Stellung der Sozialdemokratie hier vorläufig ganz abgesehen. Das Manchcster¬
tum bestreitet dem Staat die Aufgabe und die Fähigkeit, in seiner Rechtsord¬
nung die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu beeinflussen, insbesondre
nach sittlichen Grundsätzen. Der Staats- und Kathedersozialismus ist stolz
darauf, dem Staat diese Aufgabe und diese Fähigkeit wieder zugesprochen zu
haben, und er bedeutet in dieser Beziehung an sich entschieden einen großen
Fortschritt. Aber leider ist man aus einem Extrem ins andre geraten. Beide
Extreme sind falsch, unvernünftig und gefährlich. So falsch es ist, den Kultur-
staat zum Nachtwächterstaat zu degradiren, ebenso falsch ist es, die Sittlichkeit,
die Nächstenliebe, das praktische Christentum verstaatlichen zu wollen. Stehen
sich wegen der Aufgabe und Fähigkeit des Staats Mauchestertum, Staats¬
und Kathedersozialismus schroff gegenüber, so sind sie wegen der sozialen
Bedeutung der sittlichen Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/579>, abgerufen am 09.01.2025.