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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Am Lüde des Jahrhunderts

spotteter, aber einst allmächtiger "Geist." Daß übrigens Büchner Nietzsche
nicht unter die Philosophen rechnet, sondern nur als einen begabten, aber ganz
anomalen subjektiven Schriftsteller ansieht -- er drückt sich darüber noch etwas
deutlicher aus, wie wir gleich sehen werden --, bestätigt eine alte Beobachtung.
Nietzsches Exzentrizitäten scheinen nur unter den Vertretern der sogenannten
Geisteswissenschaften verheerend wirken zu können; eine gründliche naturwissen¬
schaftliche Bildung macht dagegen immun. Der Naturforscher erkennt das
Gift in der verführerischen Einwicklnng und sieht den höchsten Grad von philo¬
sophischer Haltlosigkeit und Zerfahrenheit darin, daß "so ganz irreguläre und
die Philosophie auf den Kopf stellende Erscheinungen, wie der längst vergessene
und aus seinem Grabe wieder hervorgeklaubte halbverrückte Hegelianer Max
Stirner und sein moderner Nachträtscher, der Irrenhaus- oder Wahnsinns¬
philosoph Nietzsche, die Welt in so hochgradige Aufregung versetzen."

Über Litteratur und Kunst sagt Büchner nicht viel, weil -- nicht viel
darüber zu sagen ist. Es macht doch einen eigentümlichen Eindruck, wenn
ein Mann, der in Büchern, die große Auflagen erlebt haben, sür die
Freiheit in jeder Form gekümpft hat, sich nun unwillig von der Zügellosigkeit
der neuesten Dichter und Maler abwendet und mit deutlichen Zeichen der
Wehmut nach den alten Göttern znrückschaut! Und die, die mit ihren Leistungen
heute und im letzten Drittel unsers Jahrhunderts für ihn noch in Betracht
kommen, wurzeln in der ältern Zeit; in dem geräuschvollen Treiben der
Jüngsten kann er keine Ansätze zu einer künftigen Blüte entdecken, nur Verfall
und Ermüdung. Ganz besonders aber zeigt sich ihm die Ermnttnng der Zeit
in der alles Maß überschreitenden und das Interesse eines großen Teils unsrer
gebildeten Gesellschaft fast ausschließlich beherrschenden Musikmanie, die durch
einseitige Anregung der Gefühlssphäre notwendig einen gewissen Grad geistiger
Entnervung mit sich führen müsse. Wagner, Maseagni und Sarasate seien
die Helden der Gegenwart und die Götzen der Mode. Die Wichtigkeit, die
man heutzutage dem Musikwesen beilege, stehe ganz anßer Verhältnis zu der
Achtung, deren sich in dieser Verfallzeit die übrigen schönen Künste, die Schrift¬
steller und Dichter, die Denker und Philosophen zu erfreuen Hütten.

So bleibt denn für Büchner als Fortschritt und Gewinn des ablaufenden
Jahrhunderts wohl nnr der Ertrag der Naturwissenschaften an Erkenntnis
und an praktischen, materiellen Erfolgen übrig. Wir brauchen hier seine Dar¬
legungen nicht zu verfolgen. Wohl aber möchten wir sie durch einige Be¬
merkungen ergänzen und zwar im Anschluß an das, was ihm selbst zum Ge¬
fühl der völligen Befriedigung gerade uns dem Gebiete noch fehlt. Die wissen¬
schaftlichen Schriftsteller, meint er, beschäftigen sich zu viel mit einander, das
Volk habe zu wenig von ihren Arbeiten, und der Erfolg der populären Schrift-
stellerei sei gering. Diese Urteile beruhen doch auf einer großen Unterschätzung
des Thatbestandes, wobei vielleicht auch die Graumalerei des Alters ein wenig


Grenzboten I 18S8 00
Am Lüde des Jahrhunderts

spotteter, aber einst allmächtiger „Geist." Daß übrigens Büchner Nietzsche
nicht unter die Philosophen rechnet, sondern nur als einen begabten, aber ganz
anomalen subjektiven Schriftsteller ansieht — er drückt sich darüber noch etwas
deutlicher aus, wie wir gleich sehen werden —, bestätigt eine alte Beobachtung.
Nietzsches Exzentrizitäten scheinen nur unter den Vertretern der sogenannten
Geisteswissenschaften verheerend wirken zu können; eine gründliche naturwissen¬
schaftliche Bildung macht dagegen immun. Der Naturforscher erkennt das
Gift in der verführerischen Einwicklnng und sieht den höchsten Grad von philo¬
sophischer Haltlosigkeit und Zerfahrenheit darin, daß „so ganz irreguläre und
die Philosophie auf den Kopf stellende Erscheinungen, wie der längst vergessene
und aus seinem Grabe wieder hervorgeklaubte halbverrückte Hegelianer Max
Stirner und sein moderner Nachträtscher, der Irrenhaus- oder Wahnsinns¬
philosoph Nietzsche, die Welt in so hochgradige Aufregung versetzen."

Über Litteratur und Kunst sagt Büchner nicht viel, weil — nicht viel
darüber zu sagen ist. Es macht doch einen eigentümlichen Eindruck, wenn
ein Mann, der in Büchern, die große Auflagen erlebt haben, sür die
Freiheit in jeder Form gekümpft hat, sich nun unwillig von der Zügellosigkeit
der neuesten Dichter und Maler abwendet und mit deutlichen Zeichen der
Wehmut nach den alten Göttern znrückschaut! Und die, die mit ihren Leistungen
heute und im letzten Drittel unsers Jahrhunderts für ihn noch in Betracht
kommen, wurzeln in der ältern Zeit; in dem geräuschvollen Treiben der
Jüngsten kann er keine Ansätze zu einer künftigen Blüte entdecken, nur Verfall
und Ermüdung. Ganz besonders aber zeigt sich ihm die Ermnttnng der Zeit
in der alles Maß überschreitenden und das Interesse eines großen Teils unsrer
gebildeten Gesellschaft fast ausschließlich beherrschenden Musikmanie, die durch
einseitige Anregung der Gefühlssphäre notwendig einen gewissen Grad geistiger
Entnervung mit sich führen müsse. Wagner, Maseagni und Sarasate seien
die Helden der Gegenwart und die Götzen der Mode. Die Wichtigkeit, die
man heutzutage dem Musikwesen beilege, stehe ganz anßer Verhältnis zu der
Achtung, deren sich in dieser Verfallzeit die übrigen schönen Künste, die Schrift¬
steller und Dichter, die Denker und Philosophen zu erfreuen Hütten.

So bleibt denn für Büchner als Fortschritt und Gewinn des ablaufenden
Jahrhunderts wohl nnr der Ertrag der Naturwissenschaften an Erkenntnis
und an praktischen, materiellen Erfolgen übrig. Wir brauchen hier seine Dar¬
legungen nicht zu verfolgen. Wohl aber möchten wir sie durch einige Be¬
merkungen ergänzen und zwar im Anschluß an das, was ihm selbst zum Ge¬
fühl der völligen Befriedigung gerade uns dem Gebiete noch fehlt. Die wissen¬
schaftlichen Schriftsteller, meint er, beschäftigen sich zu viel mit einander, das
Volk habe zu wenig von ihren Arbeiten, und der Erfolg der populären Schrift-
stellerei sei gering. Diese Urteile beruhen doch auf einer großen Unterschätzung
des Thatbestandes, wobei vielleicht auch die Graumalerei des Alters ein wenig


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[0549] Am Lüde des Jahrhunderts spotteter, aber einst allmächtiger „Geist." Daß übrigens Büchner Nietzsche nicht unter die Philosophen rechnet, sondern nur als einen begabten, aber ganz anomalen subjektiven Schriftsteller ansieht — er drückt sich darüber noch etwas deutlicher aus, wie wir gleich sehen werden —, bestätigt eine alte Beobachtung. Nietzsches Exzentrizitäten scheinen nur unter den Vertretern der sogenannten Geisteswissenschaften verheerend wirken zu können; eine gründliche naturwissen¬ schaftliche Bildung macht dagegen immun. Der Naturforscher erkennt das Gift in der verführerischen Einwicklnng und sieht den höchsten Grad von philo¬ sophischer Haltlosigkeit und Zerfahrenheit darin, daß „so ganz irreguläre und die Philosophie auf den Kopf stellende Erscheinungen, wie der längst vergessene und aus seinem Grabe wieder hervorgeklaubte halbverrückte Hegelianer Max Stirner und sein moderner Nachträtscher, der Irrenhaus- oder Wahnsinns¬ philosoph Nietzsche, die Welt in so hochgradige Aufregung versetzen." Über Litteratur und Kunst sagt Büchner nicht viel, weil — nicht viel darüber zu sagen ist. Es macht doch einen eigentümlichen Eindruck, wenn ein Mann, der in Büchern, die große Auflagen erlebt haben, sür die Freiheit in jeder Form gekümpft hat, sich nun unwillig von der Zügellosigkeit der neuesten Dichter und Maler abwendet und mit deutlichen Zeichen der Wehmut nach den alten Göttern znrückschaut! Und die, die mit ihren Leistungen heute und im letzten Drittel unsers Jahrhunderts für ihn noch in Betracht kommen, wurzeln in der ältern Zeit; in dem geräuschvollen Treiben der Jüngsten kann er keine Ansätze zu einer künftigen Blüte entdecken, nur Verfall und Ermüdung. Ganz besonders aber zeigt sich ihm die Ermnttnng der Zeit in der alles Maß überschreitenden und das Interesse eines großen Teils unsrer gebildeten Gesellschaft fast ausschließlich beherrschenden Musikmanie, die durch einseitige Anregung der Gefühlssphäre notwendig einen gewissen Grad geistiger Entnervung mit sich führen müsse. Wagner, Maseagni und Sarasate seien die Helden der Gegenwart und die Götzen der Mode. Die Wichtigkeit, die man heutzutage dem Musikwesen beilege, stehe ganz anßer Verhältnis zu der Achtung, deren sich in dieser Verfallzeit die übrigen schönen Künste, die Schrift¬ steller und Dichter, die Denker und Philosophen zu erfreuen Hütten. So bleibt denn für Büchner als Fortschritt und Gewinn des ablaufenden Jahrhunderts wohl nnr der Ertrag der Naturwissenschaften an Erkenntnis und an praktischen, materiellen Erfolgen übrig. Wir brauchen hier seine Dar¬ legungen nicht zu verfolgen. Wohl aber möchten wir sie durch einige Be¬ merkungen ergänzen und zwar im Anschluß an das, was ihm selbst zum Ge¬ fühl der völligen Befriedigung gerade uns dem Gebiete noch fehlt. Die wissen¬ schaftlichen Schriftsteller, meint er, beschäftigen sich zu viel mit einander, das Volk habe zu wenig von ihren Arbeiten, und der Erfolg der populären Schrift- stellerei sei gering. Diese Urteile beruhen doch auf einer großen Unterschätzung des Thatbestandes, wobei vielleicht auch die Graumalerei des Alters ein wenig Grenzboten I 18S8 00

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/549>, abgerufen am 08.01.2025.