Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Am Lüde des Jahrhunderts

Werde. Scheinbar leichten Herzens geht er an einer Stelle seines Buches über
das Ereignis hinweg.

Müssen wir also den Standpunkt des Verfassers im ganzen ablehnen, so
finden wir doch von dem vielen Einzelnen, das er als erfahrner, kluger und
vielseitig gebildeter Mann beobachtet hat und uns mitteilt, mancherlei beachtens¬
wert. Dahin rechnen wir vor allem, daß der alte Achtundvierziger an der
Wohlthat des heutigen Parlamentarismus und des ihm zu Grunde liegenden
allgemeinen Stimmrechts zu verzweifeln beginnt und Abhilfen empfiehlt, die
man sonst von konservativer Seite vorschlagen hört: Hinaussetzen der Alters¬
grenze, vielleicht auch geänderten Wahlmodus, ferner Diäten oder obligatorische
Wahlpflicht. Es soll dem intelligenten Teil der Bevölkerung ein größerer
Einfluß auf die Wahlen verschafft werden. Denn "an eine Diktatur des auf¬
geklärten Despotismus, wie sie vielleicht vom Standpunkte des freien Denkers
als idealste Regierungsform erscheinen möchte," sei jetzt nicht mehr zu denken.
Auch das geringe Interesse weiter Kreise, namentlich auch der Jugend für
Politik im höhern Sinne, im Vergleiche mit der Zeit, als wir noch kein
politisch geeintes Volk waren, erwähnt er und bedauert den dafür an die
Stelle getretner Kampf um die Interessen bestimmter Gruppen. Aber den
Fortschritt der Politik als Kunst dnrch Bismarck halten wir wieder für größer
als er (das geeinte deutsche Reich ist doch eine Folge dieser Politik), und was
er dann noch über rückschreitende Bewegungen der innern Politik ausführt,
zeigt in der Hauptsache persönliche Stimmung und Verstimmung. Verständig
scheint uns, was er über den heutigen Sozialismus sagt, vor allem mit Rück¬
sicht auf solche "unter den Gebildeten, die jetzt an dem Seile des sozialdemo-
kratischen Zukuuftsstaats ziehen helfen." Er meint nämlich, daß eine Herrschaft
des Proletariats mit Hilfe der sogenannten Arbeiterbataillone doch mir kurze
Dauer haben könne und sich selbst vernichten würde; die Urheber der Bewegung
würden ihre ersten Opfer sein. Er selbst macht gewisse Zugeständnisse (Ab¬
schaffung der Bodenrenke, Einschränkung des Erbrechts, staatliche Versicherung
für alle Art von Schäden), aber sie sind lange nicht so radikal, wie sich unsre
Leser vielleicht den Verfasser von "Kraft und Stoff" vorstellen mögen, und
es mag das alles nur mit einem Worte berührt sein, um zu zeigen, wie
anders die Erfahrung und das besonnene Alter zu urteilen pflegt, als die
jüngern, verantwortungslosen Jahrgänge, die noch heiter mit dem Feuer spielen
können.

Ans dem Gebiete der höhern Bildung wird Büchner darin recht haben,
daß zunächst die Philosophie mit einem langen Gedankenstrich abschließt. Denn
der Neukantianismus hat allmählich wohl seine Dienste gethan, und Schopen¬
hauer und Hartmann sind zwar zwei sehr geistvolle und kenntnisreiche Männer,
aber der Weltwille und das Unbewußte sind zur Erklärung dessen, was wir
nicht wissen, schwerlich brauchbarer als Hegels längst abgethaner und jetzt ver-


Am Lüde des Jahrhunderts

Werde. Scheinbar leichten Herzens geht er an einer Stelle seines Buches über
das Ereignis hinweg.

Müssen wir also den Standpunkt des Verfassers im ganzen ablehnen, so
finden wir doch von dem vielen Einzelnen, das er als erfahrner, kluger und
vielseitig gebildeter Mann beobachtet hat und uns mitteilt, mancherlei beachtens¬
wert. Dahin rechnen wir vor allem, daß der alte Achtundvierziger an der
Wohlthat des heutigen Parlamentarismus und des ihm zu Grunde liegenden
allgemeinen Stimmrechts zu verzweifeln beginnt und Abhilfen empfiehlt, die
man sonst von konservativer Seite vorschlagen hört: Hinaussetzen der Alters¬
grenze, vielleicht auch geänderten Wahlmodus, ferner Diäten oder obligatorische
Wahlpflicht. Es soll dem intelligenten Teil der Bevölkerung ein größerer
Einfluß auf die Wahlen verschafft werden. Denn „an eine Diktatur des auf¬
geklärten Despotismus, wie sie vielleicht vom Standpunkte des freien Denkers
als idealste Regierungsform erscheinen möchte," sei jetzt nicht mehr zu denken.
Auch das geringe Interesse weiter Kreise, namentlich auch der Jugend für
Politik im höhern Sinne, im Vergleiche mit der Zeit, als wir noch kein
politisch geeintes Volk waren, erwähnt er und bedauert den dafür an die
Stelle getretner Kampf um die Interessen bestimmter Gruppen. Aber den
Fortschritt der Politik als Kunst dnrch Bismarck halten wir wieder für größer
als er (das geeinte deutsche Reich ist doch eine Folge dieser Politik), und was
er dann noch über rückschreitende Bewegungen der innern Politik ausführt,
zeigt in der Hauptsache persönliche Stimmung und Verstimmung. Verständig
scheint uns, was er über den heutigen Sozialismus sagt, vor allem mit Rück¬
sicht auf solche „unter den Gebildeten, die jetzt an dem Seile des sozialdemo-
kratischen Zukuuftsstaats ziehen helfen." Er meint nämlich, daß eine Herrschaft
des Proletariats mit Hilfe der sogenannten Arbeiterbataillone doch mir kurze
Dauer haben könne und sich selbst vernichten würde; die Urheber der Bewegung
würden ihre ersten Opfer sein. Er selbst macht gewisse Zugeständnisse (Ab¬
schaffung der Bodenrenke, Einschränkung des Erbrechts, staatliche Versicherung
für alle Art von Schäden), aber sie sind lange nicht so radikal, wie sich unsre
Leser vielleicht den Verfasser von „Kraft und Stoff" vorstellen mögen, und
es mag das alles nur mit einem Worte berührt sein, um zu zeigen, wie
anders die Erfahrung und das besonnene Alter zu urteilen pflegt, als die
jüngern, verantwortungslosen Jahrgänge, die noch heiter mit dem Feuer spielen
können.

Ans dem Gebiete der höhern Bildung wird Büchner darin recht haben,
daß zunächst die Philosophie mit einem langen Gedankenstrich abschließt. Denn
der Neukantianismus hat allmählich wohl seine Dienste gethan, und Schopen¬
hauer und Hartmann sind zwar zwei sehr geistvolle und kenntnisreiche Männer,
aber der Weltwille und das Unbewußte sind zur Erklärung dessen, was wir
nicht wissen, schwerlich brauchbarer als Hegels längst abgethaner und jetzt ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0548" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227450"/>
          <fw type="header" place="top"> Am Lüde des Jahrhunderts</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1965" prev="#ID_1964"> Werde. Scheinbar leichten Herzens geht er an einer Stelle seines Buches über<lb/>
das Ereignis hinweg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1966"> Müssen wir also den Standpunkt des Verfassers im ganzen ablehnen, so<lb/>
finden wir doch von dem vielen Einzelnen, das er als erfahrner, kluger und<lb/>
vielseitig gebildeter Mann beobachtet hat und uns mitteilt, mancherlei beachtens¬<lb/>
wert. Dahin rechnen wir vor allem, daß der alte Achtundvierziger an der<lb/>
Wohlthat des heutigen Parlamentarismus und des ihm zu Grunde liegenden<lb/>
allgemeinen Stimmrechts zu verzweifeln beginnt und Abhilfen empfiehlt, die<lb/>
man sonst von konservativer Seite vorschlagen hört: Hinaussetzen der Alters¬<lb/>
grenze, vielleicht auch geänderten Wahlmodus, ferner Diäten oder obligatorische<lb/>
Wahlpflicht. Es soll dem intelligenten Teil der Bevölkerung ein größerer<lb/>
Einfluß auf die Wahlen verschafft werden. Denn &#x201E;an eine Diktatur des auf¬<lb/>
geklärten Despotismus, wie sie vielleicht vom Standpunkte des freien Denkers<lb/>
als idealste Regierungsform erscheinen möchte," sei jetzt nicht mehr zu denken.<lb/>
Auch das geringe Interesse weiter Kreise, namentlich auch der Jugend für<lb/>
Politik im höhern Sinne, im Vergleiche mit der Zeit, als wir noch kein<lb/>
politisch geeintes Volk waren, erwähnt er und bedauert den dafür an die<lb/>
Stelle getretner Kampf um die Interessen bestimmter Gruppen. Aber den<lb/>
Fortschritt der Politik als Kunst dnrch Bismarck halten wir wieder für größer<lb/>
als er (das geeinte deutsche Reich ist doch eine Folge dieser Politik), und was<lb/>
er dann noch über rückschreitende Bewegungen der innern Politik ausführt,<lb/>
zeigt in der Hauptsache persönliche Stimmung und Verstimmung. Verständig<lb/>
scheint uns, was er über den heutigen Sozialismus sagt, vor allem mit Rück¬<lb/>
sicht auf solche &#x201E;unter den Gebildeten, die jetzt an dem Seile des sozialdemo-<lb/>
kratischen Zukuuftsstaats ziehen helfen." Er meint nämlich, daß eine Herrschaft<lb/>
des Proletariats mit Hilfe der sogenannten Arbeiterbataillone doch mir kurze<lb/>
Dauer haben könne und sich selbst vernichten würde; die Urheber der Bewegung<lb/>
würden ihre ersten Opfer sein. Er selbst macht gewisse Zugeständnisse (Ab¬<lb/>
schaffung der Bodenrenke, Einschränkung des Erbrechts, staatliche Versicherung<lb/>
für alle Art von Schäden), aber sie sind lange nicht so radikal, wie sich unsre<lb/>
Leser vielleicht den Verfasser von &#x201E;Kraft und Stoff" vorstellen mögen, und<lb/>
es mag das alles nur mit einem Worte berührt sein, um zu zeigen, wie<lb/>
anders die Erfahrung und das besonnene Alter zu urteilen pflegt, als die<lb/>
jüngern, verantwortungslosen Jahrgänge, die noch heiter mit dem Feuer spielen<lb/>
können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1967" next="#ID_1968"> Ans dem Gebiete der höhern Bildung wird Büchner darin recht haben,<lb/>
daß zunächst die Philosophie mit einem langen Gedankenstrich abschließt. Denn<lb/>
der Neukantianismus hat allmählich wohl seine Dienste gethan, und Schopen¬<lb/>
hauer und Hartmann sind zwar zwei sehr geistvolle und kenntnisreiche Männer,<lb/>
aber der Weltwille und das Unbewußte sind zur Erklärung dessen, was wir<lb/>
nicht wissen, schwerlich brauchbarer als Hegels längst abgethaner und jetzt ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0548] Am Lüde des Jahrhunderts Werde. Scheinbar leichten Herzens geht er an einer Stelle seines Buches über das Ereignis hinweg. Müssen wir also den Standpunkt des Verfassers im ganzen ablehnen, so finden wir doch von dem vielen Einzelnen, das er als erfahrner, kluger und vielseitig gebildeter Mann beobachtet hat und uns mitteilt, mancherlei beachtens¬ wert. Dahin rechnen wir vor allem, daß der alte Achtundvierziger an der Wohlthat des heutigen Parlamentarismus und des ihm zu Grunde liegenden allgemeinen Stimmrechts zu verzweifeln beginnt und Abhilfen empfiehlt, die man sonst von konservativer Seite vorschlagen hört: Hinaussetzen der Alters¬ grenze, vielleicht auch geänderten Wahlmodus, ferner Diäten oder obligatorische Wahlpflicht. Es soll dem intelligenten Teil der Bevölkerung ein größerer Einfluß auf die Wahlen verschafft werden. Denn „an eine Diktatur des auf¬ geklärten Despotismus, wie sie vielleicht vom Standpunkte des freien Denkers als idealste Regierungsform erscheinen möchte," sei jetzt nicht mehr zu denken. Auch das geringe Interesse weiter Kreise, namentlich auch der Jugend für Politik im höhern Sinne, im Vergleiche mit der Zeit, als wir noch kein politisch geeintes Volk waren, erwähnt er und bedauert den dafür an die Stelle getretner Kampf um die Interessen bestimmter Gruppen. Aber den Fortschritt der Politik als Kunst dnrch Bismarck halten wir wieder für größer als er (das geeinte deutsche Reich ist doch eine Folge dieser Politik), und was er dann noch über rückschreitende Bewegungen der innern Politik ausführt, zeigt in der Hauptsache persönliche Stimmung und Verstimmung. Verständig scheint uns, was er über den heutigen Sozialismus sagt, vor allem mit Rück¬ sicht auf solche „unter den Gebildeten, die jetzt an dem Seile des sozialdemo- kratischen Zukuuftsstaats ziehen helfen." Er meint nämlich, daß eine Herrschaft des Proletariats mit Hilfe der sogenannten Arbeiterbataillone doch mir kurze Dauer haben könne und sich selbst vernichten würde; die Urheber der Bewegung würden ihre ersten Opfer sein. Er selbst macht gewisse Zugeständnisse (Ab¬ schaffung der Bodenrenke, Einschränkung des Erbrechts, staatliche Versicherung für alle Art von Schäden), aber sie sind lange nicht so radikal, wie sich unsre Leser vielleicht den Verfasser von „Kraft und Stoff" vorstellen mögen, und es mag das alles nur mit einem Worte berührt sein, um zu zeigen, wie anders die Erfahrung und das besonnene Alter zu urteilen pflegt, als die jüngern, verantwortungslosen Jahrgänge, die noch heiter mit dem Feuer spielen können. Ans dem Gebiete der höhern Bildung wird Büchner darin recht haben, daß zunächst die Philosophie mit einem langen Gedankenstrich abschließt. Denn der Neukantianismus hat allmählich wohl seine Dienste gethan, und Schopen¬ hauer und Hartmann sind zwar zwei sehr geistvolle und kenntnisreiche Männer, aber der Weltwille und das Unbewußte sind zur Erklärung dessen, was wir nicht wissen, schwerlich brauchbarer als Hegels längst abgethaner und jetzt ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/548
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/548>, abgerufen am 08.01.2025.