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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Am Gute des Jahrhunderts

hervorgerufnen materiellen Förderungen. Aber auf intellektuellem, moralischem
und sozialem Gebiete sei die Menschheit nicht so fortgeschritten, wie man es
nach den Erfolgen des achtzehnten Jahrhunderts Hütte erwarten dürfen. Die
Wissenschaft sei mit ihren Ergebnissen nicht tief genug hinabgedrungen ins
Volk, und diese Vermählung von Wissenschaft und Leben (S. 371) werde
hoffentlich das Zeichen sein, unter dem das kommende Jahrhundert leben und
siegen werde. Um uns das Ziel dieses Sieges, das er an einer andern Stelle
"den bisher vermißten und doch so notwendigen Einklang zwischen Sein und
Denken" nennt (S. 57), klar zu machen, müssen wir wissen, erstens, daß dem
Verfasser alles, was wir andern Religion nennen, selbst in dem weitesten und
freiesten Sinne genommen, für Wahn und Phrase gilt (siehe das Kapitel
Religion), zweitens, daß "die klare Sprache der Wissenschaft und des gesunden
Menschenverstandes," die dafür eingetauscht werden soll (S. 12), auf der
materialistischen Weltanschauung beruht, über deren Umfang sich der Leser in
dem Kapitel Materialismus unterrichten kann. Sollte er auch das Bedürfnis
haben, sich über die Sicherheit dieser Grundlage seines künftigen Denkens und
Redens zu vergewissern, so würden wir ihm dafür namentlich eine Stelle aus
dem Kapitel Wissenschaft vorschlagen. Mit der 1839 von Schwann und
Schleiden entdeckten Zelle als Urelement, heißt es daselbst, sei noch nicht viel
gewonnen gewesen, weil sie zu komplizirt würe, als daß sie als Anfangsbildung
der Materie gelten könnte. Erst Max Schulze hätte 1863 die ursprünglichere,
noch ungeformte Materie entdeckt, das Protoplasma, die "organische Ursub-
stanz." Diese sei gleich den "berühmten" Häckelschen Moneren. "Übrigens"
treten wir leider noch nicht auf festen Grund, denn "aller Wahrscheinlichkeit
nach" geht den Moneren noch ein Zustand "wirklicher primordialer Plasma¬
masse" voran, dessen Abstand größer ist, als der zwischen den Moneren und
dem Säugetier! "Trotzdem," das heißt also, obgleich der Unterschied zwischen
dem wahren Urzustand der Materie und den Häckelschen Moneren jedenfalls
größer ist, als irgend ein innerhalb der ganzen organischen Natur für uns
wahrnehmbarer Unterschied, genügt diese "Entdeckung," die sicher in undurch¬
dringliches Dunkel gehüllte Frage von der Urzeugung wissenschaftlich zu er¬
klären. Doch vielleicht hat der Leser schon einen ähnlichen Eindruck bekommen,
wie ihn einer von des Verfassers großen Aufklürungsmünnern, Rousseau in
seinem Emil, einmal in Bezug auf den Begriff einer lebendigen Molvcule sehr
hübsch so ausdrückt: "Um diesen Begriff anzunehmen oder zu verwerfen, müßte
man ihn erst verstehen, und ich bekenne, daß ich nicht so glücklich bin." Und
wir brauchen des Verfassers "Materie" wohl kaum uoch für das kommende
Jahrhundert in Rechnung zu stellen, seit sie das Schicksal gehabt hat, auf der
Lübecker Naturforscherversammlung 1895 für ein Gedankending erklärt zu
werden, ein Gleichnis, aber ein unvollkommues, über das man nichts mit
Sicherheit sagen könne, als daß es über kurz oder lang in nichts zerfließen


Am Gute des Jahrhunderts

hervorgerufnen materiellen Förderungen. Aber auf intellektuellem, moralischem
und sozialem Gebiete sei die Menschheit nicht so fortgeschritten, wie man es
nach den Erfolgen des achtzehnten Jahrhunderts Hütte erwarten dürfen. Die
Wissenschaft sei mit ihren Ergebnissen nicht tief genug hinabgedrungen ins
Volk, und diese Vermählung von Wissenschaft und Leben (S. 371) werde
hoffentlich das Zeichen sein, unter dem das kommende Jahrhundert leben und
siegen werde. Um uns das Ziel dieses Sieges, das er an einer andern Stelle
„den bisher vermißten und doch so notwendigen Einklang zwischen Sein und
Denken" nennt (S. 57), klar zu machen, müssen wir wissen, erstens, daß dem
Verfasser alles, was wir andern Religion nennen, selbst in dem weitesten und
freiesten Sinne genommen, für Wahn und Phrase gilt (siehe das Kapitel
Religion), zweitens, daß „die klare Sprache der Wissenschaft und des gesunden
Menschenverstandes," die dafür eingetauscht werden soll (S. 12), auf der
materialistischen Weltanschauung beruht, über deren Umfang sich der Leser in
dem Kapitel Materialismus unterrichten kann. Sollte er auch das Bedürfnis
haben, sich über die Sicherheit dieser Grundlage seines künftigen Denkens und
Redens zu vergewissern, so würden wir ihm dafür namentlich eine Stelle aus
dem Kapitel Wissenschaft vorschlagen. Mit der 1839 von Schwann und
Schleiden entdeckten Zelle als Urelement, heißt es daselbst, sei noch nicht viel
gewonnen gewesen, weil sie zu komplizirt würe, als daß sie als Anfangsbildung
der Materie gelten könnte. Erst Max Schulze hätte 1863 die ursprünglichere,
noch ungeformte Materie entdeckt, das Protoplasma, die „organische Ursub-
stanz." Diese sei gleich den „berühmten" Häckelschen Moneren. „Übrigens"
treten wir leider noch nicht auf festen Grund, denn „aller Wahrscheinlichkeit
nach" geht den Moneren noch ein Zustand „wirklicher primordialer Plasma¬
masse" voran, dessen Abstand größer ist, als der zwischen den Moneren und
dem Säugetier! „Trotzdem," das heißt also, obgleich der Unterschied zwischen
dem wahren Urzustand der Materie und den Häckelschen Moneren jedenfalls
größer ist, als irgend ein innerhalb der ganzen organischen Natur für uns
wahrnehmbarer Unterschied, genügt diese „Entdeckung," die sicher in undurch¬
dringliches Dunkel gehüllte Frage von der Urzeugung wissenschaftlich zu er¬
klären. Doch vielleicht hat der Leser schon einen ähnlichen Eindruck bekommen,
wie ihn einer von des Verfassers großen Aufklürungsmünnern, Rousseau in
seinem Emil, einmal in Bezug auf den Begriff einer lebendigen Molvcule sehr
hübsch so ausdrückt: „Um diesen Begriff anzunehmen oder zu verwerfen, müßte
man ihn erst verstehen, und ich bekenne, daß ich nicht so glücklich bin." Und
wir brauchen des Verfassers „Materie" wohl kaum uoch für das kommende
Jahrhundert in Rechnung zu stellen, seit sie das Schicksal gehabt hat, auf der
Lübecker Naturforscherversammlung 1895 für ein Gedankending erklärt zu
werden, ein Gleichnis, aber ein unvollkommues, über das man nichts mit
Sicherheit sagen könne, als daß es über kurz oder lang in nichts zerfließen


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[0547] Am Gute des Jahrhunderts hervorgerufnen materiellen Förderungen. Aber auf intellektuellem, moralischem und sozialem Gebiete sei die Menschheit nicht so fortgeschritten, wie man es nach den Erfolgen des achtzehnten Jahrhunderts Hütte erwarten dürfen. Die Wissenschaft sei mit ihren Ergebnissen nicht tief genug hinabgedrungen ins Volk, und diese Vermählung von Wissenschaft und Leben (S. 371) werde hoffentlich das Zeichen sein, unter dem das kommende Jahrhundert leben und siegen werde. Um uns das Ziel dieses Sieges, das er an einer andern Stelle „den bisher vermißten und doch so notwendigen Einklang zwischen Sein und Denken" nennt (S. 57), klar zu machen, müssen wir wissen, erstens, daß dem Verfasser alles, was wir andern Religion nennen, selbst in dem weitesten und freiesten Sinne genommen, für Wahn und Phrase gilt (siehe das Kapitel Religion), zweitens, daß „die klare Sprache der Wissenschaft und des gesunden Menschenverstandes," die dafür eingetauscht werden soll (S. 12), auf der materialistischen Weltanschauung beruht, über deren Umfang sich der Leser in dem Kapitel Materialismus unterrichten kann. Sollte er auch das Bedürfnis haben, sich über die Sicherheit dieser Grundlage seines künftigen Denkens und Redens zu vergewissern, so würden wir ihm dafür namentlich eine Stelle aus dem Kapitel Wissenschaft vorschlagen. Mit der 1839 von Schwann und Schleiden entdeckten Zelle als Urelement, heißt es daselbst, sei noch nicht viel gewonnen gewesen, weil sie zu komplizirt würe, als daß sie als Anfangsbildung der Materie gelten könnte. Erst Max Schulze hätte 1863 die ursprünglichere, noch ungeformte Materie entdeckt, das Protoplasma, die „organische Ursub- stanz." Diese sei gleich den „berühmten" Häckelschen Moneren. „Übrigens" treten wir leider noch nicht auf festen Grund, denn „aller Wahrscheinlichkeit nach" geht den Moneren noch ein Zustand „wirklicher primordialer Plasma¬ masse" voran, dessen Abstand größer ist, als der zwischen den Moneren und dem Säugetier! „Trotzdem," das heißt also, obgleich der Unterschied zwischen dem wahren Urzustand der Materie und den Häckelschen Moneren jedenfalls größer ist, als irgend ein innerhalb der ganzen organischen Natur für uns wahrnehmbarer Unterschied, genügt diese „Entdeckung," die sicher in undurch¬ dringliches Dunkel gehüllte Frage von der Urzeugung wissenschaftlich zu er¬ klären. Doch vielleicht hat der Leser schon einen ähnlichen Eindruck bekommen, wie ihn einer von des Verfassers großen Aufklürungsmünnern, Rousseau in seinem Emil, einmal in Bezug auf den Begriff einer lebendigen Molvcule sehr hübsch so ausdrückt: „Um diesen Begriff anzunehmen oder zu verwerfen, müßte man ihn erst verstehen, und ich bekenne, daß ich nicht so glücklich bin." Und wir brauchen des Verfassers „Materie" wohl kaum uoch für das kommende Jahrhundert in Rechnung zu stellen, seit sie das Schicksal gehabt hat, auf der Lübecker Naturforscherversammlung 1895 für ein Gedankending erklärt zu werden, ein Gleichnis, aber ein unvollkommues, über das man nichts mit Sicherheit sagen könne, als daß es über kurz oder lang in nichts zerfließen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/547>, abgerufen am 07.01.2025.