Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Madlene einige vom großen Zug abgesprengte Wacholderdrosseln, die die letzten Beeren Madlene nähert sich der "Kerbe. Das ist ein Einschnitt im Bergkamm, Der Mühlweg wird in der Kerbe von einem andern Hohlweg rechtwinklig Entgegengesetzt davon, vom Bergrücken her, war er gekommen mit seinem Hinten in der Gemeindewaldung hatte er eine Fichte gefällt, sie in Schlitten¬ Madlene einige vom großen Zug abgesprengte Wacholderdrosseln, die die letzten Beeren Madlene nähert sich der „Kerbe. Das ist ein Einschnitt im Bergkamm, Der Mühlweg wird in der Kerbe von einem andern Hohlweg rechtwinklig Entgegengesetzt davon, vom Bergrücken her, war er gekommen mit seinem Hinten in der Gemeindewaldung hatte er eine Fichte gefällt, sie in Schlitten¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0054" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226956"/> <fw type="header" place="top"> Madlene</fw><lb/> <p xml:id="ID_128" prev="#ID_127"> einige vom großen Zug abgesprengte Wacholderdrosseln, die die letzten Beeren<lb/> abgesucht haben und nun vor einer Hungerreise stehen. Nun ist auch das arme<lb/> Vogelleben hinweg, öd und still liegt das weite Schneefeld. Der Schnee knirscht<lb/> unter den Schuhen des Mädchens; es wird kälter. Das Sonnengold ist hinweg;<lb/> aber die Wangen glühen noch. Läufst du zu schnell, oder ist es die Kälte? Mag<lb/> beides sein. Denn von einer Seelenglut, die da etwa durch die Winterlandschaft<lb/> zöge und hinter der wogenden Brust emporstiege in die Wangen: wer könnte von<lb/> ihr erzählen? Hüte sie, Madlene! Sei heimlich mit ihr, wie du es nun schon acht<lb/> Jahre lang warst! Wenn die weite Flur oder der bergende Wald dachte, jetzt<lb/> werde die Glut oder die Blässe oder die Thräne von einem Menschenkind unver¬<lb/> mutet entdeckt werden: da war sie hinweg — die Glut oder die Blässe oder die<lb/> Thräne, und die Müsers-Madlene wußte von nichts, von gar nichts, war frei und<lb/> ledig, und jeder konnte kommen und sie zum Weibe begehren. Aber es kam keiner.<lb/> Und das mußte doch an der Madlene liegen, weil sie keine Glut, keine Blässe,<lb/> leine Thräne merken ließ."</p><lb/> <p xml:id="ID_129"> Madlene nähert sich der „Kerbe. Das ist ein Einschnitt im Bergkamm,<lb/> durch den der Weg nach der Hennsenmühle führt. Plötzlich bleibt das Mädchen<lb/> stehen und horcht auf, gespannt, ohne zu atmen. Da, wieder! Sie hört einen<lb/> Klageruf aus der Kerbe heraus. Ein Unglück! Es muß ein Mann sein. Wie<lb/> im Sturm, die Last auf dem Rücken nicht mehr spürend, eilt Madlene vorwärts.<lb/> In der Kerbe solls „umgeben." An die Kerbe stößt der Bretterplatz, eine Platte,<lb/> die von den Bretterfuhrleuten zur Anfuhr der Dielen aus den Schneidemühlen in<lb/> den Waldgründen benutzt wird, und wo im Sommer oft große Brettervorräte nnf-<lb/> geschränkt stehen und der Abfuhr an die Werra zur Flöße harren. Auf dem<lb/> Bretterplatz ists auch „nicht richtig." Was ist auf dem Bretterplatz nicht schon<lb/> alles gesehen worden, was ist den Leuten in der Kerbe nicht alles schon zu- und<lb/> aufgestoßen! Trotz alledem! Madlene stürmt furchtlos hinein in die verrufne<lb/> Schlucht.</p><lb/> <p xml:id="ID_130"> Der Mühlweg wird in der Kerbe von einem andern Hohlweg rechtwinklig<lb/> durchschnitten. Dieser andre Weg kommt vom Bergrücken her und läuft über der<lb/> Kerbe draußen in zwei Armen auf den Hvchtafeln, die die „Sorg" — einen<lb/> Kessel — umgeben, auseinander.</p><lb/> <p xml:id="ID_131"> Entgegengesetzt davon, vom Bergrücken her, war er gekommen mit seinem<lb/> großen Handschlitten voll Holz, frisch gefälltem, bleischwerem Holz, der „Nöders-<lb/> Frieder." Die Ladung war mit grünem Fichtenreisig sorgfältig verdeckt, über das<lb/> die zusammenhaltenden Stricke liefen. Die Bahn war spiegelglatt. Und der<lb/> Nödersfrieder hatte vorn auf seinem Schlitten gesessen und war dahingesaust, daß<lb/> ihm die Haare gepfiffen hatten. Aber es hat ihn wohlgedcucht, wie sein glühendes<lb/> Gesicht die kalte Luft durchschnitt.</p><lb/> <p xml:id="ID_132" next="#ID_133"> Hinten in der Gemeindewaldung hatte er eine Fichte gefällt, sie in Schlitten¬<lb/> längen zerhackt und aufgeladen. Bei dieser sauern Arbeit war ihm warm ge¬<lb/> worden. Aber noch mehr Anstrengung hatte es ihn gekostet, den schweren Schlitten<lb/> auf die abschüssige Bahn zu bringen. Als ihm das gelungen war, hielt er da auf<lb/> der Höhe, setzte sein Pfeifchen in Brand und sah zufrieden in die Winterlandschaft<lb/> hinab, die eben im letzten Sonnenschimmer erglänzte. Drunten lag sein Dörfchen<lb/> so friedlich, so geschiehts- und zukunftslos, versunken in Weltvergessenheit. Er sah<lb/> das Dach seines Hauses, und sein Blick schweifte weiter zum Müsershcms, das er<lb/> plötzlich so deutlich vor sich sah, als hätte er das beste Perspektiv vor dem Auge.<lb/> Die Madlene sah er zum Brunnen gehen, und die Frau Nachbarin hörte er sagen:</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0054]
Madlene
einige vom großen Zug abgesprengte Wacholderdrosseln, die die letzten Beeren
abgesucht haben und nun vor einer Hungerreise stehen. Nun ist auch das arme
Vogelleben hinweg, öd und still liegt das weite Schneefeld. Der Schnee knirscht
unter den Schuhen des Mädchens; es wird kälter. Das Sonnengold ist hinweg;
aber die Wangen glühen noch. Läufst du zu schnell, oder ist es die Kälte? Mag
beides sein. Denn von einer Seelenglut, die da etwa durch die Winterlandschaft
zöge und hinter der wogenden Brust emporstiege in die Wangen: wer könnte von
ihr erzählen? Hüte sie, Madlene! Sei heimlich mit ihr, wie du es nun schon acht
Jahre lang warst! Wenn die weite Flur oder der bergende Wald dachte, jetzt
werde die Glut oder die Blässe oder die Thräne von einem Menschenkind unver¬
mutet entdeckt werden: da war sie hinweg — die Glut oder die Blässe oder die
Thräne, und die Müsers-Madlene wußte von nichts, von gar nichts, war frei und
ledig, und jeder konnte kommen und sie zum Weibe begehren. Aber es kam keiner.
Und das mußte doch an der Madlene liegen, weil sie keine Glut, keine Blässe,
leine Thräne merken ließ."
Madlene nähert sich der „Kerbe. Das ist ein Einschnitt im Bergkamm,
durch den der Weg nach der Hennsenmühle führt. Plötzlich bleibt das Mädchen
stehen und horcht auf, gespannt, ohne zu atmen. Da, wieder! Sie hört einen
Klageruf aus der Kerbe heraus. Ein Unglück! Es muß ein Mann sein. Wie
im Sturm, die Last auf dem Rücken nicht mehr spürend, eilt Madlene vorwärts.
In der Kerbe solls „umgeben." An die Kerbe stößt der Bretterplatz, eine Platte,
die von den Bretterfuhrleuten zur Anfuhr der Dielen aus den Schneidemühlen in
den Waldgründen benutzt wird, und wo im Sommer oft große Brettervorräte nnf-
geschränkt stehen und der Abfuhr an die Werra zur Flöße harren. Auf dem
Bretterplatz ists auch „nicht richtig." Was ist auf dem Bretterplatz nicht schon
alles gesehen worden, was ist den Leuten in der Kerbe nicht alles schon zu- und
aufgestoßen! Trotz alledem! Madlene stürmt furchtlos hinein in die verrufne
Schlucht.
Der Mühlweg wird in der Kerbe von einem andern Hohlweg rechtwinklig
durchschnitten. Dieser andre Weg kommt vom Bergrücken her und läuft über der
Kerbe draußen in zwei Armen auf den Hvchtafeln, die die „Sorg" — einen
Kessel — umgeben, auseinander.
Entgegengesetzt davon, vom Bergrücken her, war er gekommen mit seinem
großen Handschlitten voll Holz, frisch gefälltem, bleischwerem Holz, der „Nöders-
Frieder." Die Ladung war mit grünem Fichtenreisig sorgfältig verdeckt, über das
die zusammenhaltenden Stricke liefen. Die Bahn war spiegelglatt. Und der
Nödersfrieder hatte vorn auf seinem Schlitten gesessen und war dahingesaust, daß
ihm die Haare gepfiffen hatten. Aber es hat ihn wohlgedcucht, wie sein glühendes
Gesicht die kalte Luft durchschnitt.
Hinten in der Gemeindewaldung hatte er eine Fichte gefällt, sie in Schlitten¬
längen zerhackt und aufgeladen. Bei dieser sauern Arbeit war ihm warm ge¬
worden. Aber noch mehr Anstrengung hatte es ihn gekostet, den schweren Schlitten
auf die abschüssige Bahn zu bringen. Als ihm das gelungen war, hielt er da auf
der Höhe, setzte sein Pfeifchen in Brand und sah zufrieden in die Winterlandschaft
hinab, die eben im letzten Sonnenschimmer erglänzte. Drunten lag sein Dörfchen
so friedlich, so geschiehts- und zukunftslos, versunken in Weltvergessenheit. Er sah
das Dach seines Hauses, und sein Blick schweifte weiter zum Müsershcms, das er
plötzlich so deutlich vor sich sah, als hätte er das beste Perspektiv vor dem Auge.
Die Madlene sah er zum Brunnen gehen, und die Frau Nachbarin hörte er sagen:
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