Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese gleiter herum. "Ja, Herr, er ist ein Schleifer, oder gar Polirer -- nicht Trotz der den beiden Soziologen gemeinsamen "naturwissenschaftlichen" *) Sowohl das Buch wie die Zeitschristmaussntze einhalten viele treffliche Gedanken, und die Art, wie er überall das Volk höher stellt als den Staat, entspricht durchaus meinem eignen Fühlen und Denken, aber hier habe ich es nur mit seiner Darwinianerschrulle zu thun. Grenzboten I 1898 (zg
Sozialauslese gleiter herum. »Ja, Herr, er ist ein Schleifer, oder gar Polirer — nicht Trotz der den beiden Soziologen gemeinsamen „naturwissenschaftlichen" *) Sowohl das Buch wie die Zeitschristmaussntze einhalten viele treffliche Gedanken, und die Art, wie er überall das Volk höher stellt als den Staat, entspricht durchaus meinem eignen Fühlen und Denken, aber hier habe ich es nur mit seiner Darwinianerschrulle zu thun. Grenzboten I 1898 (zg
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Sozialauslese
gleiter herum. »Ja, Herr, er ist ein Schleifer, oder gar Polirer — nicht
wahr?«" Und wilde Phantasie ist es, zu glauben, daß alle diese so zu¬
gerichteten Menschen nicht eben die gesündesten und kräftigsten Kinder zeugen
werden I Tille will glauben machen, daß alle Tüchtigen auswanderten, anstatt
sich ungünstigen Arbeitsbedingungen zu fügen. Als wenn das Auswandern
für einen mittellosen Menschen, besonders wenn er verheiratet ist, eine so ein¬
fache Sache wäre, wie für den Bemittelten eine Vergnügungsfahrt! Das ist
nicht einmal in England der Fall, geschweige denn in den Festlandsstaaten mit ihren
hundertfältiger polizeilichen und militärgesetzlichen Hindernissen. Ich würde
es gar nicht der Mühe sür wert halten, solchen offenbaren Unsinn zu kritisiren.
wenn nicht die Möglichkeit vorhanden wäre, daß sich einflußreiche Männer
durch den wissenschaftlichen Schein blenden ließen, den Tille mit seinen
darwinischen Redensarten erregt.
Trotz der den beiden Soziologen gemeinsamen „naturwissenschaftlichen"
Grundlage geht übrigens Tilles Abweichung von Ammon noch bedeutend
weiter, als gelegentlich der Militärfrage angedeutet worden ist. Ammon be¬
trachtet die Absonderung der höhern Stände von den untern als einen wohl¬
thätigen Schutz der in diesen Ständen vereinigten edlern Nasseneigenschaften
und muß daher auch das Erbrecht billigen; und seiner Parteistellung gemäß
ist er ein Verehrer des streng geschlossenen Nationalstaats. Tille dagegen
entwickelt in seinem anonym erschienenen Buche: Volksdienst, von einem Sozinl-
aristvkraten") und in Zeitschriften (besonders „Nord und Süd" und dem
„Zwanzigster Jahrhundert") folgende Ansicht. Der Unterschied der Begabungen
kann niemals aufgehoben werden, den verschiednen Begabungen entsprechen
verschiedne Leistungen, und der höchsten Leistung gebührt das höchste Ein¬
kommen. Demnach darf auch das Privateigentum nicht abgeschafft werden,
dessen Größe überall und immer den Leistungen entsprechen würde, sobald das
große Hindernis gehoben wäre, das heute so vielen Talentvollen im Wege
steht: das Erbrecht. Das Privateigentum soll nicht vererbt werden, sondern
beim Tode dessen, der es erworben hat, an die Gesamtheit zurückfallen und
dem Wettbewerb der Arbeitenden wieder frei gegeben werden, sodaß dann alle
Neugebornen gleiche Chancen haben, und ihr Erfolg im Leben — bei völlig
freier Konkurrenz — ganz allein von eines jeden persönlicher Tüchtigkeit ab¬
hängt. Eine fünfzigprozentige Erbschaftssteuer soll diesen Zustand einleiten.
„Wo die Phrase vom freien Wettbewerb heute im Manchestermunde gebraucht
wird, da bedeutet sie: unbestraftes Aussaugen der Kräfte der Arbeiterbevölke¬
rung zum besten einiger wenigen Erbkapitalisten, denen ihr Erbe die Herrschaft
*) Sowohl das Buch wie die Zeitschristmaussntze einhalten viele treffliche Gedanken, und
die Art, wie er überall das Volk höher stellt als den Staat, entspricht durchaus meinem eignen
Fühlen und Denken, aber hier habe ich es nur mit seiner Darwinianerschrulle zu thun.
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