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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

darauf zurück, daß die von der Konkurrenz der Tschechen bedrohten Deutschen
massenhaft auswanderten, und natürlich seien es immer die Tüchtigsten, die
anderwärts "Gelegenheit zu einer ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Thätig¬
keit" suchten, sodaß nur die schlechtern zurückblieben. Und er hat die Kühnheit
beizufügen: "Der herrschende Neo-Lamarckismus, der sich grundsätzlich nicht
von Darwin belehren läßt, schreibt diesen Niedergang hartnäckig den "unge¬
sunden Arbeitsbedingungen" zu und behauptet, trotz dem absoluten Mangel
an irgend welchem Beweismaterial, eine physische Entartung "durch die gesund¬
heitsschädlichen Einflüsse der Industrie, durch erschöpfende Arbeit, niedrigen Lohn,
ungenügende Ernährung und Fabrikarbeit der Frauen, früher auch der Kinder."
Es ist kein Wunder, daß eine Sozialweisheit, die mit solchen wilden Phantasien
rechnet, nicht von der Stelle kommt usw." Wilde Phantasie ist es also, daß
die Phosphornekrose den Zündhölzchenarbeiter (vor fünfzig Jahren "blühte"
in Nordbvhmen die Zündhölzchenfabrikation) in wenig Jahren zur wandelnden
Leiche macht! Wilde Phantasie, daß der Glasbläser schwindsüchtig wird!
Wilde Phantasie, daß in den scheußlichen Wohnungslöchern der Trautenauer
Spinner und ihren von Staub erfüllte" Fabrikräumen die Gesundheit leidet!
Von hundert Beispielen, die aus andern Ländern zur Verfügung stehen, will
ich nur die ersten besten herausheben. In der "Neuen Zeit" (Ur. 9 des
Jahrgangs 1897 bis 1898) berichtet Helene Simon über die amtliche Unter¬
suchung, der in England sieben Industrien in Beziehung auf ihre Gesundheits-
schüdlichkeit unterworfen worden sind. Nach dem im Juli 1896 veröffentlichten
Bericht hat die Kommission unter anderm in den lithographischen Anstalten
bei den Bronzirern die Metallvergiftung so stark gefunden, daß sie vorschlägt,
es solle gesetzlich angeordnet werden, diesen Arbeitern täglich zweimal eine
halbe Pinke Milch als Gegengift zu reichen. In den Gummiwareufabriken
erzeugen die Einatmung von Naphtha- und Schwefeldämpfen Atembeschwerden,
Schwindel, Ohnmachten, Kopfschmerz, allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit und
zeitweilige Geistesstörung, sodaß man sich in einigen Fällen genötigt gesehen
hat, die Fenster vergittern zu lassen; ein Arbeiter, der Lähmung davon ge¬
tragen hatte, meinte, es sei ii prüft vusinWs, das überhaupt nicht oder
höchstens vier Stunden lang am Tage erlaubt sein sollte usw. In der von
Pfarrer Weber herausgegebnen Geschichte der Entwicklung Deutschlands in den
letzten fünfunddreißig Jahren erzählt Lieber S. 382: "Es ist in einer Eisen¬
industriestadt. Ein großer Teil der Arbeiterbevölkerung ist mit dem Poliren
der weltberühmten Stahlwaren beschäftigt. Ich trete in eine Arbeiterwohnung.
Zwei Stübchen -- ärmlich aber freundlich -- bilden sie. Ein junges, etwas
abgehärmtes Weib, drei kleine Kinder sind die Bewohner; dazu kommt der
Mann. Er ist keine dreißig Jahre alt, kräftig gebaut und trägt doch unver¬
kennbar die Spuren eines auszehrenden Übels an sich. Ich frage, wies ihm
gehe. "Nicht gut -- ich spucke Blut." Verwundert sehe ich zu meinem Be-


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darauf zurück, daß die von der Konkurrenz der Tschechen bedrohten Deutschen
massenhaft auswanderten, und natürlich seien es immer die Tüchtigsten, die
anderwärts „Gelegenheit zu einer ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Thätig¬
keit" suchten, sodaß nur die schlechtern zurückblieben. Und er hat die Kühnheit
beizufügen: „Der herrschende Neo-Lamarckismus, der sich grundsätzlich nicht
von Darwin belehren läßt, schreibt diesen Niedergang hartnäckig den »unge¬
sunden Arbeitsbedingungen« zu und behauptet, trotz dem absoluten Mangel
an irgend welchem Beweismaterial, eine physische Entartung »durch die gesund¬
heitsschädlichen Einflüsse der Industrie, durch erschöpfende Arbeit, niedrigen Lohn,
ungenügende Ernährung und Fabrikarbeit der Frauen, früher auch der Kinder.«
Es ist kein Wunder, daß eine Sozialweisheit, die mit solchen wilden Phantasien
rechnet, nicht von der Stelle kommt usw." Wilde Phantasie ist es also, daß
die Phosphornekrose den Zündhölzchenarbeiter (vor fünfzig Jahren „blühte"
in Nordbvhmen die Zündhölzchenfabrikation) in wenig Jahren zur wandelnden
Leiche macht! Wilde Phantasie, daß der Glasbläser schwindsüchtig wird!
Wilde Phantasie, daß in den scheußlichen Wohnungslöchern der Trautenauer
Spinner und ihren von Staub erfüllte» Fabrikräumen die Gesundheit leidet!
Von hundert Beispielen, die aus andern Ländern zur Verfügung stehen, will
ich nur die ersten besten herausheben. In der „Neuen Zeit" (Ur. 9 des
Jahrgangs 1897 bis 1898) berichtet Helene Simon über die amtliche Unter¬
suchung, der in England sieben Industrien in Beziehung auf ihre Gesundheits-
schüdlichkeit unterworfen worden sind. Nach dem im Juli 1896 veröffentlichten
Bericht hat die Kommission unter anderm in den lithographischen Anstalten
bei den Bronzirern die Metallvergiftung so stark gefunden, daß sie vorschlägt,
es solle gesetzlich angeordnet werden, diesen Arbeitern täglich zweimal eine
halbe Pinke Milch als Gegengift zu reichen. In den Gummiwareufabriken
erzeugen die Einatmung von Naphtha- und Schwefeldämpfen Atembeschwerden,
Schwindel, Ohnmachten, Kopfschmerz, allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit und
zeitweilige Geistesstörung, sodaß man sich in einigen Fällen genötigt gesehen
hat, die Fenster vergittern zu lassen; ein Arbeiter, der Lähmung davon ge¬
tragen hatte, meinte, es sei ii prüft vusinWs, das überhaupt nicht oder
höchstens vier Stunden lang am Tage erlaubt sein sollte usw. In der von
Pfarrer Weber herausgegebnen Geschichte der Entwicklung Deutschlands in den
letzten fünfunddreißig Jahren erzählt Lieber S. 382: „Es ist in einer Eisen¬
industriestadt. Ein großer Teil der Arbeiterbevölkerung ist mit dem Poliren
der weltberühmten Stahlwaren beschäftigt. Ich trete in eine Arbeiterwohnung.
Zwei Stübchen — ärmlich aber freundlich — bilden sie. Ein junges, etwas
abgehärmtes Weib, drei kleine Kinder sind die Bewohner; dazu kommt der
Mann. Er ist keine dreißig Jahre alt, kräftig gebaut und trägt doch unver¬
kennbar die Spuren eines auszehrenden Übels an sich. Ich frage, wies ihm
gehe. »Nicht gut — ich spucke Blut.« Verwundert sehe ich zu meinem Be-


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[0524] Sozialauslese darauf zurück, daß die von der Konkurrenz der Tschechen bedrohten Deutschen massenhaft auswanderten, und natürlich seien es immer die Tüchtigsten, die anderwärts „Gelegenheit zu einer ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Thätig¬ keit" suchten, sodaß nur die schlechtern zurückblieben. Und er hat die Kühnheit beizufügen: „Der herrschende Neo-Lamarckismus, der sich grundsätzlich nicht von Darwin belehren läßt, schreibt diesen Niedergang hartnäckig den »unge¬ sunden Arbeitsbedingungen« zu und behauptet, trotz dem absoluten Mangel an irgend welchem Beweismaterial, eine physische Entartung »durch die gesund¬ heitsschädlichen Einflüsse der Industrie, durch erschöpfende Arbeit, niedrigen Lohn, ungenügende Ernährung und Fabrikarbeit der Frauen, früher auch der Kinder.« Es ist kein Wunder, daß eine Sozialweisheit, die mit solchen wilden Phantasien rechnet, nicht von der Stelle kommt usw." Wilde Phantasie ist es also, daß die Phosphornekrose den Zündhölzchenarbeiter (vor fünfzig Jahren „blühte" in Nordbvhmen die Zündhölzchenfabrikation) in wenig Jahren zur wandelnden Leiche macht! Wilde Phantasie, daß der Glasbläser schwindsüchtig wird! Wilde Phantasie, daß in den scheußlichen Wohnungslöchern der Trautenauer Spinner und ihren von Staub erfüllte» Fabrikräumen die Gesundheit leidet! Von hundert Beispielen, die aus andern Ländern zur Verfügung stehen, will ich nur die ersten besten herausheben. In der „Neuen Zeit" (Ur. 9 des Jahrgangs 1897 bis 1898) berichtet Helene Simon über die amtliche Unter¬ suchung, der in England sieben Industrien in Beziehung auf ihre Gesundheits- schüdlichkeit unterworfen worden sind. Nach dem im Juli 1896 veröffentlichten Bericht hat die Kommission unter anderm in den lithographischen Anstalten bei den Bronzirern die Metallvergiftung so stark gefunden, daß sie vorschlägt, es solle gesetzlich angeordnet werden, diesen Arbeitern täglich zweimal eine halbe Pinke Milch als Gegengift zu reichen. In den Gummiwareufabriken erzeugen die Einatmung von Naphtha- und Schwefeldämpfen Atembeschwerden, Schwindel, Ohnmachten, Kopfschmerz, allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit und zeitweilige Geistesstörung, sodaß man sich in einigen Fällen genötigt gesehen hat, die Fenster vergittern zu lassen; ein Arbeiter, der Lähmung davon ge¬ tragen hatte, meinte, es sei ii prüft vusinWs, das überhaupt nicht oder höchstens vier Stunden lang am Tage erlaubt sein sollte usw. In der von Pfarrer Weber herausgegebnen Geschichte der Entwicklung Deutschlands in den letzten fünfunddreißig Jahren erzählt Lieber S. 382: „Es ist in einer Eisen¬ industriestadt. Ein großer Teil der Arbeiterbevölkerung ist mit dem Poliren der weltberühmten Stahlwaren beschäftigt. Ich trete in eine Arbeiterwohnung. Zwei Stübchen — ärmlich aber freundlich — bilden sie. Ein junges, etwas abgehärmtes Weib, drei kleine Kinder sind die Bewohner; dazu kommt der Mann. Er ist keine dreißig Jahre alt, kräftig gebaut und trägt doch unver¬ kennbar die Spuren eines auszehrenden Übels an sich. Ich frage, wies ihm gehe. »Nicht gut — ich spucke Blut.« Verwundert sehe ich zu meinem Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/524>, abgerufen am 07.01.2025.