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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

erhoben sich zuerst und auf das heftigste, jene als Macht des religiösen Be¬
wußtseins wie als Beschützerin sozialer Reformen; das Volk empörte sich gegen
den Druck einer rücksichtslosen Geldmacht.

So zeigt sich der Charakter der Judenverfolgungen viel weniger als eine
Glaubensverfolgung als als eine mit gewaltsamen Mitteln durchgeführte Geld¬
krisis, sie sind weniger eine Bewegung auf kirchlichem als auf volkswirtschaft¬
lichen Gebiet. Als der französische König Philipp 1181 die Juden verbannt
und ihre Schuldforderungen für erloschen erklärt, da triumphirt sein Geschicht¬
schreiber: "Das Jahr verdient ein Jubeljahr genannt zu werden, deun in ihm
erhielten die Christen durch die Maßregeln des Königs für immer ihre längst
durch die Schulden an die Juden verpfändete Freiheit zurück." Die Bewegung
dauert von nun an durch das ganze Mittelalter; sie zeigte sich in verschiednen
Ausbrüchen und gewann im vierzehnten Jahrhundert durch die Teilnahme der
Luxemburger Kaiser einen allgemeinen Charakter, indem die Regierungen und
Obrigkeiten sich auf die Seite des empörten Volks stellten. Ein Erlaß des
Königs Wenzel vom Jahre 1390 besagt: "Die Schuldforderunge" der Juden
müssen aufgehoben werden, weil die Fürsten und alle Stände des Reichs von
dem unmäßigen Gesuch der Zinsen so sehr gedrückt werden, daß sie zuletzt
von Land und Leuten weichen und diese mit dem Rücken ansehen müßten."

Von den großen Verfolgungen am Rhein, namentlich in Köln, wird be¬
stimmt gemeldet, daß es ein Aufruhr des gemeinen Volks gewesen sei inner¬
halb und außerhalb der Stadt, das nichts mehr zu verlieren gehabt habe, daß
der Überfall nachts geschehen sei mit Mord und Brand, Verwüstung und
Raub, und daß der Rat und die Bürgerschaft, d. h. also der besitzende Teil
des Volks, es nicht hätten verhindern können. Die Städte des Oberrheins
hielten 1348 Rat wegen der Juden; fast alle wollten sie "ihrer Bosheit
halber" vertilgen, uur Straßburg widersetzte sich und schirmte seine Juden
auch weiter. Die Folge davon war, wie die Chronik berichtet, daß die Stra߬
burger Juden "hochtrabenden Sinnes wurden und wollten niemand mehr nach¬
sehen, und wer mit ihnen zu thun hatte, konnte kaum mit ihnen übereinkommen.
Das Volk aber erhob sich abermals (1399), entsetzte die Bürgermeister, die
Geld hatten genommen, und tötete viele Juden, nur die sich wollten taufen
lassen, ließ man leben. Was man den Juden schuldig war, wurde alles quitt,
und alle Pfänder und Güter wurden zurückgegeben; das bare Geld, was sie
hatten, nahm der Rat und teilte es unter die Handwerker."

Der gleiche Charakter kennzeichnet auch die Verfolgungen in den übrigen
Städten und Gegenden. In Basel, Mülhausen, Eßlingen, Frankfurt, in der
Schweiz, in Baiern, Österreich, Böhmen und Schlesien, überall war es der
gemeine Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte und deswegen mit Feuer
und Schwert wütete; es folgten die Stadtmagistrate, die, der Strömung nach¬
gebend, Todesurteile und Verbannungen aussprachen, und schließlich alle Stände.


Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

erhoben sich zuerst und auf das heftigste, jene als Macht des religiösen Be¬
wußtseins wie als Beschützerin sozialer Reformen; das Volk empörte sich gegen
den Druck einer rücksichtslosen Geldmacht.

So zeigt sich der Charakter der Judenverfolgungen viel weniger als eine
Glaubensverfolgung als als eine mit gewaltsamen Mitteln durchgeführte Geld¬
krisis, sie sind weniger eine Bewegung auf kirchlichem als auf volkswirtschaft¬
lichen Gebiet. Als der französische König Philipp 1181 die Juden verbannt
und ihre Schuldforderungen für erloschen erklärt, da triumphirt sein Geschicht¬
schreiber: „Das Jahr verdient ein Jubeljahr genannt zu werden, deun in ihm
erhielten die Christen durch die Maßregeln des Königs für immer ihre längst
durch die Schulden an die Juden verpfändete Freiheit zurück." Die Bewegung
dauert von nun an durch das ganze Mittelalter; sie zeigte sich in verschiednen
Ausbrüchen und gewann im vierzehnten Jahrhundert durch die Teilnahme der
Luxemburger Kaiser einen allgemeinen Charakter, indem die Regierungen und
Obrigkeiten sich auf die Seite des empörten Volks stellten. Ein Erlaß des
Königs Wenzel vom Jahre 1390 besagt: „Die Schuldforderunge» der Juden
müssen aufgehoben werden, weil die Fürsten und alle Stände des Reichs von
dem unmäßigen Gesuch der Zinsen so sehr gedrückt werden, daß sie zuletzt
von Land und Leuten weichen und diese mit dem Rücken ansehen müßten."

Von den großen Verfolgungen am Rhein, namentlich in Köln, wird be¬
stimmt gemeldet, daß es ein Aufruhr des gemeinen Volks gewesen sei inner¬
halb und außerhalb der Stadt, das nichts mehr zu verlieren gehabt habe, daß
der Überfall nachts geschehen sei mit Mord und Brand, Verwüstung und
Raub, und daß der Rat und die Bürgerschaft, d. h. also der besitzende Teil
des Volks, es nicht hätten verhindern können. Die Städte des Oberrheins
hielten 1348 Rat wegen der Juden; fast alle wollten sie „ihrer Bosheit
halber" vertilgen, uur Straßburg widersetzte sich und schirmte seine Juden
auch weiter. Die Folge davon war, wie die Chronik berichtet, daß die Stra߬
burger Juden „hochtrabenden Sinnes wurden und wollten niemand mehr nach¬
sehen, und wer mit ihnen zu thun hatte, konnte kaum mit ihnen übereinkommen.
Das Volk aber erhob sich abermals (1399), entsetzte die Bürgermeister, die
Geld hatten genommen, und tötete viele Juden, nur die sich wollten taufen
lassen, ließ man leben. Was man den Juden schuldig war, wurde alles quitt,
und alle Pfänder und Güter wurden zurückgegeben; das bare Geld, was sie
hatten, nahm der Rat und teilte es unter die Handwerker."

Der gleiche Charakter kennzeichnet auch die Verfolgungen in den übrigen
Städten und Gegenden. In Basel, Mülhausen, Eßlingen, Frankfurt, in der
Schweiz, in Baiern, Österreich, Böhmen und Schlesien, überall war es der
gemeine Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte und deswegen mit Feuer
und Schwert wütete; es folgten die Stadtmagistrate, die, der Strömung nach¬
gebend, Todesurteile und Verbannungen aussprachen, und schließlich alle Stände.


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[0521] Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte erhoben sich zuerst und auf das heftigste, jene als Macht des religiösen Be¬ wußtseins wie als Beschützerin sozialer Reformen; das Volk empörte sich gegen den Druck einer rücksichtslosen Geldmacht. So zeigt sich der Charakter der Judenverfolgungen viel weniger als eine Glaubensverfolgung als als eine mit gewaltsamen Mitteln durchgeführte Geld¬ krisis, sie sind weniger eine Bewegung auf kirchlichem als auf volkswirtschaft¬ lichen Gebiet. Als der französische König Philipp 1181 die Juden verbannt und ihre Schuldforderungen für erloschen erklärt, da triumphirt sein Geschicht¬ schreiber: „Das Jahr verdient ein Jubeljahr genannt zu werden, deun in ihm erhielten die Christen durch die Maßregeln des Königs für immer ihre längst durch die Schulden an die Juden verpfändete Freiheit zurück." Die Bewegung dauert von nun an durch das ganze Mittelalter; sie zeigte sich in verschiednen Ausbrüchen und gewann im vierzehnten Jahrhundert durch die Teilnahme der Luxemburger Kaiser einen allgemeinen Charakter, indem die Regierungen und Obrigkeiten sich auf die Seite des empörten Volks stellten. Ein Erlaß des Königs Wenzel vom Jahre 1390 besagt: „Die Schuldforderunge» der Juden müssen aufgehoben werden, weil die Fürsten und alle Stände des Reichs von dem unmäßigen Gesuch der Zinsen so sehr gedrückt werden, daß sie zuletzt von Land und Leuten weichen und diese mit dem Rücken ansehen müßten." Von den großen Verfolgungen am Rhein, namentlich in Köln, wird be¬ stimmt gemeldet, daß es ein Aufruhr des gemeinen Volks gewesen sei inner¬ halb und außerhalb der Stadt, das nichts mehr zu verlieren gehabt habe, daß der Überfall nachts geschehen sei mit Mord und Brand, Verwüstung und Raub, und daß der Rat und die Bürgerschaft, d. h. also der besitzende Teil des Volks, es nicht hätten verhindern können. Die Städte des Oberrheins hielten 1348 Rat wegen der Juden; fast alle wollten sie „ihrer Bosheit halber" vertilgen, uur Straßburg widersetzte sich und schirmte seine Juden auch weiter. Die Folge davon war, wie die Chronik berichtet, daß die Stra߬ burger Juden „hochtrabenden Sinnes wurden und wollten niemand mehr nach¬ sehen, und wer mit ihnen zu thun hatte, konnte kaum mit ihnen übereinkommen. Das Volk aber erhob sich abermals (1399), entsetzte die Bürgermeister, die Geld hatten genommen, und tötete viele Juden, nur die sich wollten taufen lassen, ließ man leben. Was man den Juden schuldig war, wurde alles quitt, und alle Pfänder und Güter wurden zurückgegeben; das bare Geld, was sie hatten, nahm der Rat und teilte es unter die Handwerker." Der gleiche Charakter kennzeichnet auch die Verfolgungen in den übrigen Städten und Gegenden. In Basel, Mülhausen, Eßlingen, Frankfurt, in der Schweiz, in Baiern, Österreich, Böhmen und Schlesien, überall war es der gemeine Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte und deswegen mit Feuer und Schwert wütete; es folgten die Stadtmagistrate, die, der Strömung nach¬ gebend, Todesurteile und Verbannungen aussprachen, und schließlich alle Stände.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/521>, abgerufen am 08.01.2025.