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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

die mit gleichem Frohlocken die Früchte der gewaltsamen Erschütterung, die
Lösung von der Schuldenlast willkommen hießen.

Noch durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert ziehen sich diese Bewegungen
hin. Durch sie befreiten sich die Städte des Mittelalters von der Geldherr¬
schaft der Juden, und wenn die gewaltsam räuberische Art, wie das geschah,
auch unbedingt zu verurteilen ist, so war es doch immerhin ein Akt der Selbst¬
befreiung der unterdrückten Masse gegen eine hart herrschende Klasse. Das
Mittel einer allmählichen gesetzlichen Ablösung, die sozialpolitische Anschauung,
nach der der Staat, die organisirte Gesamtheit des Volks, für jede einzelne
Klasse einzutreten hat, die nicht aus sich selbst die Mittel zu dem zu bean¬
spruchenden Wohlsein zu schöpfen vermag, solche Auffassungen und Wege hat
das deutsche Volk erst in viel späterer Zeit kennen und üben gelernt.

Jene Bewegungen hatten jedoch, abgesehen von ihrem gewaltsamen und
revolutionären Charakter, noch den großen Nachteil, daß sie sich stets nur
gegen das Symptom des Übels wandten und die Wurzel, nämlich eine
andre und bessere Befriedigung der Kreditbedürftigkeit, unberührt ließen. So
lange dieser Zustand nicht geändert wurde, so lange die Grundübel bestehen
blieben, mußten sich die daraus hervorgehenden Notstände und die gewalt¬
samen Rückschläge in regelmäßiger Ablösung wiederholen. Endlich ging man
an den Kern der Sache heran; indem man städtische Leihhäuser errichtete, be¬
freite man die arbeitende Klasse von der Abhängigkeit von den Juden. Als
die Juden entbehrlich wurden, erloschen auch die Judenverfolgungen von selber,
deren man früher auf keine Weise hatte Herr werden können. Nürnberg trieb
noch 1498 die Juden mit Erlaubnis des Kaisers Max aus, errichtete aber im
unmittelbaren Anschluß daran ein städtisches Leihhaus als eins der ersten in
Deutschland. Reiche oder wohlhabende Bürger gaben die Mittel dazu her.
Wenn es nun auch die Schattenseite der Leihhäuser ist, daß sie nicht selten
dem Leichtsinn und der Verschwendung Vorschub leisten, so haben sie dies doch
mit andern Kreditanstalten gemein; dem Gedanken nach als Waren- und
Lombardbanken für das Volk gegründet, haben sie in Bezug auf Verhinderung
der wucherischer Ausbeutung überwiegenden Segen gestiftet und in ihrer Art
einen schweren sozialen Notstand wenn nicht beseitigt, so doch wesentlich
gemildert.

2. Je tiefer die Auffassung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts
in den Grund und das Wesen der Dinge eingedrungen ist, umso mehr hat
sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Reformation nur die eine Seite
einer ungeheuern sozialen Bewegung war. Ganz entschieden kommt eine andre
Seite in den Bauernkriegen zum Ausdruck, während die dritte in dem ruhm¬
und hoffnungslosen unaufhaltsamen Niedergang der deutschen Städte weniger
ausfällig ist.

Der materielle Kernpunkt der ganzen Entwicklung ist das seit den Kreuz-


Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

die mit gleichem Frohlocken die Früchte der gewaltsamen Erschütterung, die
Lösung von der Schuldenlast willkommen hießen.

Noch durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert ziehen sich diese Bewegungen
hin. Durch sie befreiten sich die Städte des Mittelalters von der Geldherr¬
schaft der Juden, und wenn die gewaltsam räuberische Art, wie das geschah,
auch unbedingt zu verurteilen ist, so war es doch immerhin ein Akt der Selbst¬
befreiung der unterdrückten Masse gegen eine hart herrschende Klasse. Das
Mittel einer allmählichen gesetzlichen Ablösung, die sozialpolitische Anschauung,
nach der der Staat, die organisirte Gesamtheit des Volks, für jede einzelne
Klasse einzutreten hat, die nicht aus sich selbst die Mittel zu dem zu bean¬
spruchenden Wohlsein zu schöpfen vermag, solche Auffassungen und Wege hat
das deutsche Volk erst in viel späterer Zeit kennen und üben gelernt.

Jene Bewegungen hatten jedoch, abgesehen von ihrem gewaltsamen und
revolutionären Charakter, noch den großen Nachteil, daß sie sich stets nur
gegen das Symptom des Übels wandten und die Wurzel, nämlich eine
andre und bessere Befriedigung der Kreditbedürftigkeit, unberührt ließen. So
lange dieser Zustand nicht geändert wurde, so lange die Grundübel bestehen
blieben, mußten sich die daraus hervorgehenden Notstände und die gewalt¬
samen Rückschläge in regelmäßiger Ablösung wiederholen. Endlich ging man
an den Kern der Sache heran; indem man städtische Leihhäuser errichtete, be¬
freite man die arbeitende Klasse von der Abhängigkeit von den Juden. Als
die Juden entbehrlich wurden, erloschen auch die Judenverfolgungen von selber,
deren man früher auf keine Weise hatte Herr werden können. Nürnberg trieb
noch 1498 die Juden mit Erlaubnis des Kaisers Max aus, errichtete aber im
unmittelbaren Anschluß daran ein städtisches Leihhaus als eins der ersten in
Deutschland. Reiche oder wohlhabende Bürger gaben die Mittel dazu her.
Wenn es nun auch die Schattenseite der Leihhäuser ist, daß sie nicht selten
dem Leichtsinn und der Verschwendung Vorschub leisten, so haben sie dies doch
mit andern Kreditanstalten gemein; dem Gedanken nach als Waren- und
Lombardbanken für das Volk gegründet, haben sie in Bezug auf Verhinderung
der wucherischer Ausbeutung überwiegenden Segen gestiftet und in ihrer Art
einen schweren sozialen Notstand wenn nicht beseitigt, so doch wesentlich
gemildert.

2. Je tiefer die Auffassung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts
in den Grund und das Wesen der Dinge eingedrungen ist, umso mehr hat
sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Reformation nur die eine Seite
einer ungeheuern sozialen Bewegung war. Ganz entschieden kommt eine andre
Seite in den Bauernkriegen zum Ausdruck, während die dritte in dem ruhm¬
und hoffnungslosen unaufhaltsamen Niedergang der deutschen Städte weniger
ausfällig ist.

Der materielle Kernpunkt der ganzen Entwicklung ist das seit den Kreuz-


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[0522] Lin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte die mit gleichem Frohlocken die Früchte der gewaltsamen Erschütterung, die Lösung von der Schuldenlast willkommen hießen. Noch durch das ganze fünfzehnte Jahrhundert ziehen sich diese Bewegungen hin. Durch sie befreiten sich die Städte des Mittelalters von der Geldherr¬ schaft der Juden, und wenn die gewaltsam räuberische Art, wie das geschah, auch unbedingt zu verurteilen ist, so war es doch immerhin ein Akt der Selbst¬ befreiung der unterdrückten Masse gegen eine hart herrschende Klasse. Das Mittel einer allmählichen gesetzlichen Ablösung, die sozialpolitische Anschauung, nach der der Staat, die organisirte Gesamtheit des Volks, für jede einzelne Klasse einzutreten hat, die nicht aus sich selbst die Mittel zu dem zu bean¬ spruchenden Wohlsein zu schöpfen vermag, solche Auffassungen und Wege hat das deutsche Volk erst in viel späterer Zeit kennen und üben gelernt. Jene Bewegungen hatten jedoch, abgesehen von ihrem gewaltsamen und revolutionären Charakter, noch den großen Nachteil, daß sie sich stets nur gegen das Symptom des Übels wandten und die Wurzel, nämlich eine andre und bessere Befriedigung der Kreditbedürftigkeit, unberührt ließen. So lange dieser Zustand nicht geändert wurde, so lange die Grundübel bestehen blieben, mußten sich die daraus hervorgehenden Notstände und die gewalt¬ samen Rückschläge in regelmäßiger Ablösung wiederholen. Endlich ging man an den Kern der Sache heran; indem man städtische Leihhäuser errichtete, be¬ freite man die arbeitende Klasse von der Abhängigkeit von den Juden. Als die Juden entbehrlich wurden, erloschen auch die Judenverfolgungen von selber, deren man früher auf keine Weise hatte Herr werden können. Nürnberg trieb noch 1498 die Juden mit Erlaubnis des Kaisers Max aus, errichtete aber im unmittelbaren Anschluß daran ein städtisches Leihhaus als eins der ersten in Deutschland. Reiche oder wohlhabende Bürger gaben die Mittel dazu her. Wenn es nun auch die Schattenseite der Leihhäuser ist, daß sie nicht selten dem Leichtsinn und der Verschwendung Vorschub leisten, so haben sie dies doch mit andern Kreditanstalten gemein; dem Gedanken nach als Waren- und Lombardbanken für das Volk gegründet, haben sie in Bezug auf Verhinderung der wucherischer Ausbeutung überwiegenden Segen gestiftet und in ihrer Art einen schweren sozialen Notstand wenn nicht beseitigt, so doch wesentlich gemildert. 2. Je tiefer die Auffassung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in den Grund und das Wesen der Dinge eingedrungen ist, umso mehr hat sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Reformation nur die eine Seite einer ungeheuern sozialen Bewegung war. Ganz entschieden kommt eine andre Seite in den Bauernkriegen zum Ausdruck, während die dritte in dem ruhm¬ und hoffnungslosen unaufhaltsamen Niedergang der deutschen Städte weniger ausfällig ist. Der materielle Kernpunkt der ganzen Entwicklung ist das seit den Kreuz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/522>, abgerufen am 07.01.2025.