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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Ein sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

die Besitzenden zur Erwerbsarbeit bereit sind, diese Arbeit aber nicht lohnend
genug ist oder ihnen nicht lohnend genug erscheint, so sind es Kämpfe zwischen
der ausgebeuteten Masse und einer durch die Verhältnisse wirtschaftlich mächtigen
ausbeutenden Klasse. Der Sozialismus in diesem Sinne entsteht, wenn die
Gemeinwirtschaft und die Wahrnehmung der Gesamtinteressen hinter der Ent¬
wicklung des Gemeinsinnes zurückgeblieben ist, wenn die Verteilung des Ar-
beitsgewiuues allgemein als ungerecht empfunden wird. Von diesem Ge¬
sichtspunkt aus können wir die sozialen Bestrebungen der deutschen Geschichte
einigermaßen gruppiren je nach der Klasse, gegen die sie gerichtet sind, in
eine antijüdische Periode, eine antihierarchische, eine antifeudale und eine anti-
bourgeoise oder, da das Wort häßlich gebildet ist, eine antimauchesterliche. Die
Manchesterlehre ist ja die Theorie der Bourgeoisie.

Wir haben im nachstehenden die wesentlichen Züge der genannten Perioden
zu betrachten.

1. Die Grenzboten sind weder gewerbsmäßige, noch Amateurantisemiten,
müssen aber auch die philosemitisch-freisinnige Auffassung zurückweisen, als ob
der Charakter der deutschen Juden erst durch die Judenverfolgungen des Mittel¬
alters verdorben worden wäre. Man braucht nur das erste Buch Mosis auf¬
merksam zu lesen, um sich zu überzeugen, daß sich die Erzväter schon vor
Jahrtausenden durch dieselben Charaktereigenschaften ausgezeichnet habe", die
wir noch heute an ihren Nachkommen bemerken, und die so häufig mit unsrer
germanischen Lebensanschauung in Widerspruch geraten. Diese Eigenschaften
sind es gerade, die die mittelalterlichen Verfolgungen verursacht haben. In
unsrer Schilderung folgen wir Joh. Falles Geschichte des deutschen Handels,
einer in Bezug auf Antisemitismus gewiß unverdächtigen Quelle.

Der Anfang der Judenverfolgungen liegt im elften Jahrhundert und steht
in Verbindung mit den Kreuzzügen. "Wir ziehen übers Meer, um Christi
Feinde zu bekämpfen, und haben seine ärgsten Feinde in nächster Nähe," war
das Feldgeschrei der rasenden Volkshaufen; doch würde dieses Volk, dessen
Sinn auf Pilgerschaft und Vergessen alles Heimischen gerichtet war, schwerlich
seine volle, entzündende Willenskraft auf diese nächsten Verhältnisse gelenkt
haben, hätten nicht gerade diese ihren schweren Druck auf sie geübt, und wären
nicht jene Feinde Christi zugleich im Besitz eines großen Teils des Volks¬
vermögens gewesen. Deshalb waren die blutigen Verfolgungen von dem un-
unterbrochnem Jubel über die Befreiung vou unerträglicher Schuldenlast be¬
gleitet: es war wie ein tiefes Aufatmen nach der Erlösung von einem Alpdruck;
deshalb wiederholen alle Berichterstatter, dem Volke sei die Freiheit zurück¬
gegeben worden. Die Beschützer der Juden -- zumal in den ersten Zeiten
der Verfolgungen -- waren die größern Reichsfürsten und die städtischen Ge¬
meinden, die jene noch als nützliche, steuerfühige Bürger in ihren Rechten und
Besitztümern gesichert wissen wollten. Die Kirche und das arbeitende Volk


Ein sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

die Besitzenden zur Erwerbsarbeit bereit sind, diese Arbeit aber nicht lohnend
genug ist oder ihnen nicht lohnend genug erscheint, so sind es Kämpfe zwischen
der ausgebeuteten Masse und einer durch die Verhältnisse wirtschaftlich mächtigen
ausbeutenden Klasse. Der Sozialismus in diesem Sinne entsteht, wenn die
Gemeinwirtschaft und die Wahrnehmung der Gesamtinteressen hinter der Ent¬
wicklung des Gemeinsinnes zurückgeblieben ist, wenn die Verteilung des Ar-
beitsgewiuues allgemein als ungerecht empfunden wird. Von diesem Ge¬
sichtspunkt aus können wir die sozialen Bestrebungen der deutschen Geschichte
einigermaßen gruppiren je nach der Klasse, gegen die sie gerichtet sind, in
eine antijüdische Periode, eine antihierarchische, eine antifeudale und eine anti-
bourgeoise oder, da das Wort häßlich gebildet ist, eine antimauchesterliche. Die
Manchesterlehre ist ja die Theorie der Bourgeoisie.

Wir haben im nachstehenden die wesentlichen Züge der genannten Perioden
zu betrachten.

1. Die Grenzboten sind weder gewerbsmäßige, noch Amateurantisemiten,
müssen aber auch die philosemitisch-freisinnige Auffassung zurückweisen, als ob
der Charakter der deutschen Juden erst durch die Judenverfolgungen des Mittel¬
alters verdorben worden wäre. Man braucht nur das erste Buch Mosis auf¬
merksam zu lesen, um sich zu überzeugen, daß sich die Erzväter schon vor
Jahrtausenden durch dieselben Charaktereigenschaften ausgezeichnet habe», die
wir noch heute an ihren Nachkommen bemerken, und die so häufig mit unsrer
germanischen Lebensanschauung in Widerspruch geraten. Diese Eigenschaften
sind es gerade, die die mittelalterlichen Verfolgungen verursacht haben. In
unsrer Schilderung folgen wir Joh. Falles Geschichte des deutschen Handels,
einer in Bezug auf Antisemitismus gewiß unverdächtigen Quelle.

Der Anfang der Judenverfolgungen liegt im elften Jahrhundert und steht
in Verbindung mit den Kreuzzügen. „Wir ziehen übers Meer, um Christi
Feinde zu bekämpfen, und haben seine ärgsten Feinde in nächster Nähe," war
das Feldgeschrei der rasenden Volkshaufen; doch würde dieses Volk, dessen
Sinn auf Pilgerschaft und Vergessen alles Heimischen gerichtet war, schwerlich
seine volle, entzündende Willenskraft auf diese nächsten Verhältnisse gelenkt
haben, hätten nicht gerade diese ihren schweren Druck auf sie geübt, und wären
nicht jene Feinde Christi zugleich im Besitz eines großen Teils des Volks¬
vermögens gewesen. Deshalb waren die blutigen Verfolgungen von dem un-
unterbrochnem Jubel über die Befreiung vou unerträglicher Schuldenlast be¬
gleitet: es war wie ein tiefes Aufatmen nach der Erlösung von einem Alpdruck;
deshalb wiederholen alle Berichterstatter, dem Volke sei die Freiheit zurück¬
gegeben worden. Die Beschützer der Juden — zumal in den ersten Zeiten
der Verfolgungen — waren die größern Reichsfürsten und die städtischen Ge¬
meinden, die jene noch als nützliche, steuerfühige Bürger in ihren Rechten und
Besitztümern gesichert wissen wollten. Die Kirche und das arbeitende Volk


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[0520] Ein sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte die Besitzenden zur Erwerbsarbeit bereit sind, diese Arbeit aber nicht lohnend genug ist oder ihnen nicht lohnend genug erscheint, so sind es Kämpfe zwischen der ausgebeuteten Masse und einer durch die Verhältnisse wirtschaftlich mächtigen ausbeutenden Klasse. Der Sozialismus in diesem Sinne entsteht, wenn die Gemeinwirtschaft und die Wahrnehmung der Gesamtinteressen hinter der Ent¬ wicklung des Gemeinsinnes zurückgeblieben ist, wenn die Verteilung des Ar- beitsgewiuues allgemein als ungerecht empfunden wird. Von diesem Ge¬ sichtspunkt aus können wir die sozialen Bestrebungen der deutschen Geschichte einigermaßen gruppiren je nach der Klasse, gegen die sie gerichtet sind, in eine antijüdische Periode, eine antihierarchische, eine antifeudale und eine anti- bourgeoise oder, da das Wort häßlich gebildet ist, eine antimauchesterliche. Die Manchesterlehre ist ja die Theorie der Bourgeoisie. Wir haben im nachstehenden die wesentlichen Züge der genannten Perioden zu betrachten. 1. Die Grenzboten sind weder gewerbsmäßige, noch Amateurantisemiten, müssen aber auch die philosemitisch-freisinnige Auffassung zurückweisen, als ob der Charakter der deutschen Juden erst durch die Judenverfolgungen des Mittel¬ alters verdorben worden wäre. Man braucht nur das erste Buch Mosis auf¬ merksam zu lesen, um sich zu überzeugen, daß sich die Erzväter schon vor Jahrtausenden durch dieselben Charaktereigenschaften ausgezeichnet habe», die wir noch heute an ihren Nachkommen bemerken, und die so häufig mit unsrer germanischen Lebensanschauung in Widerspruch geraten. Diese Eigenschaften sind es gerade, die die mittelalterlichen Verfolgungen verursacht haben. In unsrer Schilderung folgen wir Joh. Falles Geschichte des deutschen Handels, einer in Bezug auf Antisemitismus gewiß unverdächtigen Quelle. Der Anfang der Judenverfolgungen liegt im elften Jahrhundert und steht in Verbindung mit den Kreuzzügen. „Wir ziehen übers Meer, um Christi Feinde zu bekämpfen, und haben seine ärgsten Feinde in nächster Nähe," war das Feldgeschrei der rasenden Volkshaufen; doch würde dieses Volk, dessen Sinn auf Pilgerschaft und Vergessen alles Heimischen gerichtet war, schwerlich seine volle, entzündende Willenskraft auf diese nächsten Verhältnisse gelenkt haben, hätten nicht gerade diese ihren schweren Druck auf sie geübt, und wären nicht jene Feinde Christi zugleich im Besitz eines großen Teils des Volks¬ vermögens gewesen. Deshalb waren die blutigen Verfolgungen von dem un- unterbrochnem Jubel über die Befreiung vou unerträglicher Schuldenlast be¬ gleitet: es war wie ein tiefes Aufatmen nach der Erlösung von einem Alpdruck; deshalb wiederholen alle Berichterstatter, dem Volke sei die Freiheit zurück¬ gegeben worden. Die Beschützer der Juden — zumal in den ersten Zeiten der Verfolgungen — waren die größern Reichsfürsten und die städtischen Ge¬ meinden, die jene noch als nützliche, steuerfühige Bürger in ihren Rechten und Besitztümern gesichert wissen wollten. Die Kirche und das arbeitende Volk

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/520>, abgerufen am 08.01.2025.