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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider¬
sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandnen Konflikt zwischen gesell¬
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Ge¬
sellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind,
für die sie weit genug ist; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße
der alten Gesellschaft ausgebildet sind. Daher stellt sich die Menschheit immer
nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn, genauer betrachtet, wird sich stets
finden, daß die Aufgabe selbst uur entspringt, wo die materiellen Bedingungen
ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens be¬
griffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne
bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Ge¬
sellschaftsformation bezeichnet werden."

Die Kritik des Marxismus, die Ammon versucht, fällt so dürftig und
schief aus, daß man zweifeln muß, ob er das "Kapital" gelesen hat; er scheint
nur darin geblättert zu haben. Natürlich hat er vom Kapital keinen klaren
Begriff, weder von dem, was Marx meint, noch von irgend einem andern,
und klammert sich an die Lehre vom Mehrwert. Daran sind freilich die
Marxisten selbst schuld, die den schwächsten Teil des Marxischen Systems zu
seineni Kern- und Angelpunkt machen, während Marx selbst mit Beziehung
auf solche Fehlgriffe gesagt hat: Ich bin uicht Marxist. Der Kern des
Marxismus besteht uicht in der Hervorhebung der Thatsache, daß bei der
Teilung des Arbeitsproduktes der Knecht -- seiner Meinung nach -- vom Herrn
verkürzt wird, denn das ist allen Stufen der ökonomischen Entwicklung, von
der asiatischen Despotenwirtschaft anzufangen, gemeinsam und kein unter¬
scheidendes Merkmal der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsform. Deren
Hauptmerkmal, das sich vor dem sechzehnten Jahrhundert nie und nirgends
in der Welt gefunden hat, besteht darin, daß die Güter nicht für den Bedarf,
sondern für den Markt hergestellt werden, also zuerst Ware sind, ehe sie Ge-
branchsgüter werden, daß sie nur durch Kauf Gebrauchsgüter werden können,
und daß niemand kaufen kann, er habe denn vorher irgend etwas verkauft.
Diese Einrichtung hat die Konkurrenz erzeugt, hierdurch die Ära der Er¬
findungen herbeigeführt, die die Produktivität der Arbeit ins ungeheure ge¬
steigert und dnrch die Leichtigkeit des Verkehrs alle Menschen, Länder und
Güter in unmittelbare Berührung mit einander gebracht haben. Das sind
selbstverständlich durchaus wohlthätige und erfreuliche Wirkungen. Aber mit
der Wohlthat ist nach dem alles Irdische beherrschenden Gesetze der Keim
des Unheils großgewachsen, das sie zerstört. Weil jeder verkaufen muß, um
selbst kaufen zu können, will alles verkaufen, unterbietet einander und macht
schließlich das Verkaufen, dadurch aber auch das Kaufen unmöglich. So sind
wir auf den Punkt gelangt, wo unsre Produktionskräfte mit unsern Produktions-


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Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider¬
sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandnen Konflikt zwischen gesell¬
schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Ge¬
sellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind,
für die sie weit genug ist; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße
der alten Gesellschaft ausgebildet sind. Daher stellt sich die Menschheit immer
nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn, genauer betrachtet, wird sich stets
finden, daß die Aufgabe selbst uur entspringt, wo die materiellen Bedingungen
ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens be¬
griffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne
bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Ge¬
sellschaftsformation bezeichnet werden."

Die Kritik des Marxismus, die Ammon versucht, fällt so dürftig und
schief aus, daß man zweifeln muß, ob er das „Kapital" gelesen hat; er scheint
nur darin geblättert zu haben. Natürlich hat er vom Kapital keinen klaren
Begriff, weder von dem, was Marx meint, noch von irgend einem andern,
und klammert sich an die Lehre vom Mehrwert. Daran sind freilich die
Marxisten selbst schuld, die den schwächsten Teil des Marxischen Systems zu
seineni Kern- und Angelpunkt machen, während Marx selbst mit Beziehung
auf solche Fehlgriffe gesagt hat: Ich bin uicht Marxist. Der Kern des
Marxismus besteht uicht in der Hervorhebung der Thatsache, daß bei der
Teilung des Arbeitsproduktes der Knecht — seiner Meinung nach — vom Herrn
verkürzt wird, denn das ist allen Stufen der ökonomischen Entwicklung, von
der asiatischen Despotenwirtschaft anzufangen, gemeinsam und kein unter¬
scheidendes Merkmal der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsform. Deren
Hauptmerkmal, das sich vor dem sechzehnten Jahrhundert nie und nirgends
in der Welt gefunden hat, besteht darin, daß die Güter nicht für den Bedarf,
sondern für den Markt hergestellt werden, also zuerst Ware sind, ehe sie Ge-
branchsgüter werden, daß sie nur durch Kauf Gebrauchsgüter werden können,
und daß niemand kaufen kann, er habe denn vorher irgend etwas verkauft.
Diese Einrichtung hat die Konkurrenz erzeugt, hierdurch die Ära der Er¬
findungen herbeigeführt, die die Produktivität der Arbeit ins ungeheure ge¬
steigert und dnrch die Leichtigkeit des Verkehrs alle Menschen, Länder und
Güter in unmittelbare Berührung mit einander gebracht haben. Das sind
selbstverständlich durchaus wohlthätige und erfreuliche Wirkungen. Aber mit
der Wohlthat ist nach dem alles Irdische beherrschenden Gesetze der Keim
des Unheils großgewachsen, das sie zerstört. Weil jeder verkaufen muß, um
selbst kaufen zu können, will alles verkaufen, unterbietet einander und macht
schließlich das Verkaufen, dadurch aber auch das Kaufen unmöglich. So sind
wir auf den Punkt gelangt, wo unsre Produktionskräfte mit unsern Produktions-


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[0488] Sozialauslese Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Wider¬ sprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandnen Konflikt zwischen gesell¬ schaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Ge¬ sellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist; und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft ausgebildet sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn, genauer betrachtet, wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst uur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens be¬ griffen sind. In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und moderne bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Ge¬ sellschaftsformation bezeichnet werden." Die Kritik des Marxismus, die Ammon versucht, fällt so dürftig und schief aus, daß man zweifeln muß, ob er das „Kapital" gelesen hat; er scheint nur darin geblättert zu haben. Natürlich hat er vom Kapital keinen klaren Begriff, weder von dem, was Marx meint, noch von irgend einem andern, und klammert sich an die Lehre vom Mehrwert. Daran sind freilich die Marxisten selbst schuld, die den schwächsten Teil des Marxischen Systems zu seineni Kern- und Angelpunkt machen, während Marx selbst mit Beziehung auf solche Fehlgriffe gesagt hat: Ich bin uicht Marxist. Der Kern des Marxismus besteht uicht in der Hervorhebung der Thatsache, daß bei der Teilung des Arbeitsproduktes der Knecht — seiner Meinung nach — vom Herrn verkürzt wird, denn das ist allen Stufen der ökonomischen Entwicklung, von der asiatischen Despotenwirtschaft anzufangen, gemeinsam und kein unter¬ scheidendes Merkmal der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsform. Deren Hauptmerkmal, das sich vor dem sechzehnten Jahrhundert nie und nirgends in der Welt gefunden hat, besteht darin, daß die Güter nicht für den Bedarf, sondern für den Markt hergestellt werden, also zuerst Ware sind, ehe sie Ge- branchsgüter werden, daß sie nur durch Kauf Gebrauchsgüter werden können, und daß niemand kaufen kann, er habe denn vorher irgend etwas verkauft. Diese Einrichtung hat die Konkurrenz erzeugt, hierdurch die Ära der Er¬ findungen herbeigeführt, die die Produktivität der Arbeit ins ungeheure ge¬ steigert und dnrch die Leichtigkeit des Verkehrs alle Menschen, Länder und Güter in unmittelbare Berührung mit einander gebracht haben. Das sind selbstverständlich durchaus wohlthätige und erfreuliche Wirkungen. Aber mit der Wohlthat ist nach dem alles Irdische beherrschenden Gesetze der Keim des Unheils großgewachsen, das sie zerstört. Weil jeder verkaufen muß, um selbst kaufen zu können, will alles verkaufen, unterbietet einander und macht schließlich das Verkaufen, dadurch aber auch das Kaufen unmöglich. So sind wir auf den Punkt gelangt, wo unsre Produktionskräfte mit unsern Produktions-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/488>, abgerufen am 08.01.2025.