Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese Die Kritik an den Gesellschaftszuständen führt Ammon darauf zurück, daß Sozialauslese Die Kritik an den Gesellschaftszuständen führt Ammon darauf zurück, daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227389"/> <fw type="header" place="top"> Sozialauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1747" next="#ID_1748"> Die Kritik an den Gesellschaftszuständen führt Ammon darauf zurück, daß<lb/> der Egoismus die von der Gesellschaft auferlegten Freiheitsbeschränkungen<lb/> schmerzlich empfinde. „Während der Gebildete sich mit Würde in das Un¬<lb/> abänderliche zu schicken sucht, meint der Ungebildete, seinen Ingrimm an irgend<lb/> etwas auslassen oder eine neue Weltordnung aus seiner Phantasie nach dein<lb/> Modell des Schlaraffenlandes erfinden zu müssen." Was für ungebildete<lb/> Menschen müssen doch Plato, Thomas Morus, Joh. Gottl. Fichte und William<lb/> Morris, der mit Ruskin zusammen dem englischen Kunsthandwerk zur Wieder¬<lb/> geburt verholfen hat, gewesen sein! Natürlich hält er an der Sozialdemokratie,<lb/> die ihm das Greulichste auf Erden ist, alles für utopisch und führt die Polemik<lb/> gegen sie ans den Standpunkt vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Er findet<lb/> sie komisch, diese Menschlein, die die Gesellschaftsmaschine nicht einmal durch¬<lb/> schaut haben, trotzdem aber „mit ihren täppischen Händen herantreten, um<lb/> dieselbe von Grund auf zu verbessern." Der Kenner der einschlagenden Lit¬<lb/> teratur dagegen weiß, daß die heutigen Sozialdemokratin „die Maschine" eben<lb/> nicht mit Händen verbessern wollen, sondern auf die Umbildungen hinweisen,<lb/> die der Gesellschaftsorganismus im Laufe seiner Entwicklung erführe. Seite 8<lb/> stellt Ammon folgende zwei Sätze auf. „Lehre Darwins: Alles ist durch<lb/> natürliche Entwicklung allmählich entstanden und dem Bedürfnis angepaßt.<lb/> Sozialdemokratischer Darwinismus: Alles ist dem Bedürfnis angepaßt,<lb/> mit Ausnahme der Gesellschaftsordnung, welche grundverkehrt ist und mit<lb/> Unterbrechung der allmählichen Entwicklung vollkommen nen nach Maßgabe<lb/> der sozialdemokratischen Theorie geschaffen werden muß." Dagegen halte man<lb/> die Stelle in der Vorrede zur „Kritik der Politischen Ökonomie." worin Marx<lb/> die Grundzüge seiner Ansicht darlegt. „Es ist nicht das Bewußtsein der<lb/> Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr<lb/> Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten<lb/> die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vor-<lb/> handnen Prvdnktivnsverhältinssen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür<lb/> ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt<lb/> hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse<lb/> in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.<lb/> Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze un¬<lb/> geheure Überbau ^der Staatsformen und Rechtsverhältnisse^ langsamer oder<lb/> rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unter¬<lb/> scheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu koustatirenden<lb/> Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen,<lb/> politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurz, ideologischen Formen,<lb/> worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten.<lb/> So wenig man das, was ein Individuum ist, beurteilt nach dem, was es sich<lb/> selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0487]
Sozialauslese
Die Kritik an den Gesellschaftszuständen führt Ammon darauf zurück, daß
der Egoismus die von der Gesellschaft auferlegten Freiheitsbeschränkungen
schmerzlich empfinde. „Während der Gebildete sich mit Würde in das Un¬
abänderliche zu schicken sucht, meint der Ungebildete, seinen Ingrimm an irgend
etwas auslassen oder eine neue Weltordnung aus seiner Phantasie nach dein
Modell des Schlaraffenlandes erfinden zu müssen." Was für ungebildete
Menschen müssen doch Plato, Thomas Morus, Joh. Gottl. Fichte und William
Morris, der mit Ruskin zusammen dem englischen Kunsthandwerk zur Wieder¬
geburt verholfen hat, gewesen sein! Natürlich hält er an der Sozialdemokratie,
die ihm das Greulichste auf Erden ist, alles für utopisch und führt die Polemik
gegen sie ans den Standpunkt vor fünfundzwanzig Jahren zurück. Er findet
sie komisch, diese Menschlein, die die Gesellschaftsmaschine nicht einmal durch¬
schaut haben, trotzdem aber „mit ihren täppischen Händen herantreten, um
dieselbe von Grund auf zu verbessern." Der Kenner der einschlagenden Lit¬
teratur dagegen weiß, daß die heutigen Sozialdemokratin „die Maschine" eben
nicht mit Händen verbessern wollen, sondern auf die Umbildungen hinweisen,
die der Gesellschaftsorganismus im Laufe seiner Entwicklung erführe. Seite 8
stellt Ammon folgende zwei Sätze auf. „Lehre Darwins: Alles ist durch
natürliche Entwicklung allmählich entstanden und dem Bedürfnis angepaßt.
Sozialdemokratischer Darwinismus: Alles ist dem Bedürfnis angepaßt,
mit Ausnahme der Gesellschaftsordnung, welche grundverkehrt ist und mit
Unterbrechung der allmählichen Entwicklung vollkommen nen nach Maßgabe
der sozialdemokratischen Theorie geschaffen werden muß." Dagegen halte man
die Stelle in der Vorrede zur „Kritik der Politischen Ökonomie." worin Marx
die Grundzüge seiner Ansicht darlegt. „Es ist nicht das Bewußtsein der
Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr
Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten
die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vor-
handnen Prvdnktivnsverhältinssen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür
ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt
hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse
in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.
Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze un¬
geheure Überbau ^der Staatsformen und Rechtsverhältnisse^ langsamer oder
rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unter¬
scheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu koustatirenden
Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurz, ideologischen Formen,
worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten.
So wenig man das, was ein Individuum ist, beurteilt nach dem, was es sich
selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |