Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese Verhältnissen in Widerspruch geraten. Die heutige Menschheit verfügt über Sozialauslese Verhältnissen in Widerspruch geraten. Die heutige Menschheit verfügt über <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0489" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227391"/> <fw type="header" place="top"> Sozialauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1750" prev="#ID_1749"> Verhältnissen in Widerspruch geraten. Die heutige Menschheit verfügt über<lb/> Produktionskräfte, die jederzeit ohne Überanstrengung der Arbeiter das Doppelte<lb/> von dem zu erzeugen vermöchten, was die Menschheit zum Wohlbefinden aller<lb/> ihrer Glieder bedarf, aber der Umstand, daß jede Vermehrung der Produktion<lb/> die Waren verbilligt, die Wohlfeilheit der Waren aber die Unternehmer ruinirt,<lb/> gestattet nicht einmal die Herstellung des notwendigen. So kommt es, daß<lb/> sich alle Staaten gegen einander absperren, nicht um neidisch den Abfluß ihres<lb/> Vermögens nach außen, sondern um das Einströmen von Reichtum zu hindern.<lb/> Denn aller Reichtum besteht in Gebrauchsgütern; so viel oder so wenig Güter<lb/> ein Mensch oder ein Volk hat, so reich oder so arm ist der Mensch oder das<lb/> Volk. Und so geraten wir in die tragikomische Lüge, an Reichtümern ersticken<lb/> zu müssen, die wir haben, aber nicht genießen dürfen. Die Welt verwandelt<lb/> sich in eine einzige ungeheure Vorratskammer, deren Vorräte nicht angerührt<lb/> werden können, weil das Scham, öffne dich! fehlt; die Straßen der Städte<lb/> bilden ein einziges ungeheures Schaufenster, deren Pracht die Kauflustigen aber<lb/> Kaufunfähigen ärgert und die müßig dahinter stehenden Verkäufer zur Ver¬<lb/> zweiflung bringt. Während man in früheren Zeiten alle Hände voll zu thun<lb/> hatte, um nur das Notwendigste zu erzeugen und dabei noch oft genug wegen<lb/> mangelnder Vorräte Hungers starb, hat man heut alle Hände voll zu thun,<lb/> die zuströmenden Vorräte abzuwehren, und schreit nach nichts anderm als nach<lb/> Arbeitsgelegenheit, die allerorten fehlt. Und so kündigt sich uus denn nach<lb/> Goluchowski das zwanzigste Jahrhundert an „als ein Jahrhundert des Ringens<lb/> ums Dasein auf handelspolitischem Gebiete," und so klagt denn der Staats¬<lb/> sekretär des Innern, Graf Posadowsky (in der Sitzung des Reichstags vom<lb/> «. Dezember vorigen Jahres), daß infolge der Absperrung aller Staaten gegen<lb/> einander die Lage für unsern Export immer schwieriger werde. Nur ein —<lb/> nun, drücken wir uns naturwissenschaftlich und höflich aus! — nur ein Minder¬<lb/> wertiger kann alles in schönster Ordnung finden, wenn die Agrarier aller<lb/> Länder über den Überfluß an Korn, und die Fabrikanten über die Wohlfeilheit<lb/> der Baumwolle jammern, die Möglichkeit für den gemeinen Mann aber, Brot<lb/> und Hemden zu kaufen, davon abhängt, daß es unsern Exporteuren gelingt,<lb/> Chinesen und Negern Waren aufzuhängen, die diese weder wollen noch brauchen.<lb/> Nur ein Minderwertiger kann verkennen, daß schon längst unsre heutigen<lb/> Produktionsformen in Fesseln der Produktion umgeschlagen sind. Nur ein<lb/> Minderwertiger kann Karl Marx den Dank dafür verweigern, daß er dieses<lb/> Getriebe aufgedeckt und die Erkenntnis dessen, was daran in Unordnung ist,<lb/> ermöglicht hat. Die Staaten wachsen und vergehen mit den wirtschaftlichen<lb/> Zuständen, auf denen sie beruhen. Wenn demnach heute ein Staatsmann<lb/> Politik treiben will, ohne die von Marx aufgedeckten Produktionsverhältnisse<lb/> unsrer Ära zu kennen und anzuerkennen, so ist das, wie wenn ein Mensch<lb/> Astronomie treiben wollte, ohne Kopernikus zu kennen und anzuerkennen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0489]
Sozialauslese
Verhältnissen in Widerspruch geraten. Die heutige Menschheit verfügt über
Produktionskräfte, die jederzeit ohne Überanstrengung der Arbeiter das Doppelte
von dem zu erzeugen vermöchten, was die Menschheit zum Wohlbefinden aller
ihrer Glieder bedarf, aber der Umstand, daß jede Vermehrung der Produktion
die Waren verbilligt, die Wohlfeilheit der Waren aber die Unternehmer ruinirt,
gestattet nicht einmal die Herstellung des notwendigen. So kommt es, daß
sich alle Staaten gegen einander absperren, nicht um neidisch den Abfluß ihres
Vermögens nach außen, sondern um das Einströmen von Reichtum zu hindern.
Denn aller Reichtum besteht in Gebrauchsgütern; so viel oder so wenig Güter
ein Mensch oder ein Volk hat, so reich oder so arm ist der Mensch oder das
Volk. Und so geraten wir in die tragikomische Lüge, an Reichtümern ersticken
zu müssen, die wir haben, aber nicht genießen dürfen. Die Welt verwandelt
sich in eine einzige ungeheure Vorratskammer, deren Vorräte nicht angerührt
werden können, weil das Scham, öffne dich! fehlt; die Straßen der Städte
bilden ein einziges ungeheures Schaufenster, deren Pracht die Kauflustigen aber
Kaufunfähigen ärgert und die müßig dahinter stehenden Verkäufer zur Ver¬
zweiflung bringt. Während man in früheren Zeiten alle Hände voll zu thun
hatte, um nur das Notwendigste zu erzeugen und dabei noch oft genug wegen
mangelnder Vorräte Hungers starb, hat man heut alle Hände voll zu thun,
die zuströmenden Vorräte abzuwehren, und schreit nach nichts anderm als nach
Arbeitsgelegenheit, die allerorten fehlt. Und so kündigt sich uus denn nach
Goluchowski das zwanzigste Jahrhundert an „als ein Jahrhundert des Ringens
ums Dasein auf handelspolitischem Gebiete," und so klagt denn der Staats¬
sekretär des Innern, Graf Posadowsky (in der Sitzung des Reichstags vom
«. Dezember vorigen Jahres), daß infolge der Absperrung aller Staaten gegen
einander die Lage für unsern Export immer schwieriger werde. Nur ein —
nun, drücken wir uns naturwissenschaftlich und höflich aus! — nur ein Minder¬
wertiger kann alles in schönster Ordnung finden, wenn die Agrarier aller
Länder über den Überfluß an Korn, und die Fabrikanten über die Wohlfeilheit
der Baumwolle jammern, die Möglichkeit für den gemeinen Mann aber, Brot
und Hemden zu kaufen, davon abhängt, daß es unsern Exporteuren gelingt,
Chinesen und Negern Waren aufzuhängen, die diese weder wollen noch brauchen.
Nur ein Minderwertiger kann verkennen, daß schon längst unsre heutigen
Produktionsformen in Fesseln der Produktion umgeschlagen sind. Nur ein
Minderwertiger kann Karl Marx den Dank dafür verweigern, daß er dieses
Getriebe aufgedeckt und die Erkenntnis dessen, was daran in Unordnung ist,
ermöglicht hat. Die Staaten wachsen und vergehen mit den wirtschaftlichen
Zuständen, auf denen sie beruhen. Wenn demnach heute ein Staatsmann
Politik treiben will, ohne die von Marx aufgedeckten Produktionsverhältnisse
unsrer Ära zu kennen und anzuerkennen, so ist das, wie wenn ein Mensch
Astronomie treiben wollte, ohne Kopernikus zu kennen und anzuerkennen.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |