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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

dem Herzen hat -- es ist einer der reichsten Leute des Ortes --, bleibt zurück
und mit dem Wirt allein. Diesen fragt er, nachdem sich die Hausthür hinter
dem letzten Mitgast geschlossen hat, mit vorgehaltner Hand: "Du, erklär mir
doch mal, was ist denn das eigentlich, der Septennar?" Wir sind über¬
zeugt, daß jeder unsrer Leser mit entsprechenden Proben von Intelligenz aus
der ersten Steuerklasse aufwarten könnte.

Eine andre falsche Voraussetzung, die Ammon gleich andern Gegnern des
allgemeinen gleichen Wahlrechts stillschweigend macht, ist die, daß die Wühler
alle Gesetzvorlagen zu beurteilen imstande sein müßten. Diese Bedingung er¬
füllt aber in unsern modernen Großstaaten mit ihren verwickelten Verhältnissen
kein Mensch, auch keiner der höchsten Jntelligenzklasse. Einen Sinn hätte die
Forderung nur, wenn die Wähler nicht Wähler, sondern Gesetzgeber sein sollten,
wie das die Schweizer Staatsbürger im Fall eines Referendums sind. Der
deutsche Reichstagswähler hat nicht Gesetze zu begutachten, sondern er hat nur
Vertrauensmänner zu wählen, von denen er glaubt, daß sie imstande sein
werden, wenn auch uicht alle, so doch einige Vorlagen richtig zu beurteilen.
Der Reichstag hat dann Kommissionen zu wühlen, in denen sich die für jede
Gruppe von Vorlagen Sachverständigen zusammenfinden. Der Wähler läßt
sich gewöhnlich von der Erwägung leiten, ob der Kandidat wohl sein, des
Wählers, Klassen- oder Standesintcresse gut vertreten werde. Das ist kein
sehr erhabner oder idealer Standpunkt, aber da so ziemlich alle Wähler diesen
Standpunkt einnehmen, fo gleichen sich die verschiednen Egoismen aus, und
das Wohl des Ganzen bleibt leidlich gewahrt, und damit muß man sich zu¬
frieden geben in dieser unvollkommnen Welt. Messen wir nun einmal die
Leistungen dieses auf dem nach Ammon schlechtesten Wahlsystem beruhenden
Reichstages an dem Parteimaßstabe Ammons, der als Vertreter der badischen
Intelligenz und als Feind der Ultramontanen und Demokraten doch unbedingt
der nationalliberalen Partei angehört, und der ein ausgesprochner Bismarck-
verehrer ist! Von allen großen Entwürfen Bismarcks ist nur einer gescheitert,
das Tabakmonopol. In dessen Verwerfung waren aber fast alle Parteien
einig, und seine heftigsten Gegner waren die badischen Nationalliberalen; ich
selbst habe oft mit solchen darüber gestritten. Bis zum Jahre 1878 waren
die Nationalliberalen, trotz des "schlechten" Wahlrechts, die stärkste Partei des
Reichstags; wer sie dann an die Wand drückte, das war uicht der blinde
Hödur der Intelligenz- und Steuerklasse ö -- die sozialdemokratische Fraktion
schmolz nach den Attentaten auf neun Mann zusammen --, sondern Bismarck
durch seine neue Wirtschaftspolitik. Seit jenen Tagen der großen Umkehr ist
die Gesetzgebung vorzugsweise auf zwei Gebieten thätig gewesen, auf dem so¬
genannten sozialen und auf dem wirtschaftlichen. Auf jenem haben wir zunächst



*) Bismarck hat bekanntlich das preußische Zensuswahlrecht so genannt.
Sozialauslese

dem Herzen hat — es ist einer der reichsten Leute des Ortes —, bleibt zurück
und mit dem Wirt allein. Diesen fragt er, nachdem sich die Hausthür hinter
dem letzten Mitgast geschlossen hat, mit vorgehaltner Hand: „Du, erklär mir
doch mal, was ist denn das eigentlich, der Septennar?" Wir sind über¬
zeugt, daß jeder unsrer Leser mit entsprechenden Proben von Intelligenz aus
der ersten Steuerklasse aufwarten könnte.

Eine andre falsche Voraussetzung, die Ammon gleich andern Gegnern des
allgemeinen gleichen Wahlrechts stillschweigend macht, ist die, daß die Wühler
alle Gesetzvorlagen zu beurteilen imstande sein müßten. Diese Bedingung er¬
füllt aber in unsern modernen Großstaaten mit ihren verwickelten Verhältnissen
kein Mensch, auch keiner der höchsten Jntelligenzklasse. Einen Sinn hätte die
Forderung nur, wenn die Wähler nicht Wähler, sondern Gesetzgeber sein sollten,
wie das die Schweizer Staatsbürger im Fall eines Referendums sind. Der
deutsche Reichstagswähler hat nicht Gesetze zu begutachten, sondern er hat nur
Vertrauensmänner zu wählen, von denen er glaubt, daß sie imstande sein
werden, wenn auch uicht alle, so doch einige Vorlagen richtig zu beurteilen.
Der Reichstag hat dann Kommissionen zu wühlen, in denen sich die für jede
Gruppe von Vorlagen Sachverständigen zusammenfinden. Der Wähler läßt
sich gewöhnlich von der Erwägung leiten, ob der Kandidat wohl sein, des
Wählers, Klassen- oder Standesintcresse gut vertreten werde. Das ist kein
sehr erhabner oder idealer Standpunkt, aber da so ziemlich alle Wähler diesen
Standpunkt einnehmen, fo gleichen sich die verschiednen Egoismen aus, und
das Wohl des Ganzen bleibt leidlich gewahrt, und damit muß man sich zu¬
frieden geben in dieser unvollkommnen Welt. Messen wir nun einmal die
Leistungen dieses auf dem nach Ammon schlechtesten Wahlsystem beruhenden
Reichstages an dem Parteimaßstabe Ammons, der als Vertreter der badischen
Intelligenz und als Feind der Ultramontanen und Demokraten doch unbedingt
der nationalliberalen Partei angehört, und der ein ausgesprochner Bismarck-
verehrer ist! Von allen großen Entwürfen Bismarcks ist nur einer gescheitert,
das Tabakmonopol. In dessen Verwerfung waren aber fast alle Parteien
einig, und seine heftigsten Gegner waren die badischen Nationalliberalen; ich
selbst habe oft mit solchen darüber gestritten. Bis zum Jahre 1878 waren
die Nationalliberalen, trotz des „schlechten" Wahlrechts, die stärkste Partei des
Reichstags; wer sie dann an die Wand drückte, das war uicht der blinde
Hödur der Intelligenz- und Steuerklasse ö — die sozialdemokratische Fraktion
schmolz nach den Attentaten auf neun Mann zusammen —, sondern Bismarck
durch seine neue Wirtschaftspolitik. Seit jenen Tagen der großen Umkehr ist
die Gesetzgebung vorzugsweise auf zwei Gebieten thätig gewesen, auf dem so¬
genannten sozialen und auf dem wirtschaftlichen. Auf jenem haben wir zunächst



*) Bismarck hat bekanntlich das preußische Zensuswahlrecht so genannt.
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[0482] Sozialauslese dem Herzen hat — es ist einer der reichsten Leute des Ortes —, bleibt zurück und mit dem Wirt allein. Diesen fragt er, nachdem sich die Hausthür hinter dem letzten Mitgast geschlossen hat, mit vorgehaltner Hand: „Du, erklär mir doch mal, was ist denn das eigentlich, der Septennar?" Wir sind über¬ zeugt, daß jeder unsrer Leser mit entsprechenden Proben von Intelligenz aus der ersten Steuerklasse aufwarten könnte. Eine andre falsche Voraussetzung, die Ammon gleich andern Gegnern des allgemeinen gleichen Wahlrechts stillschweigend macht, ist die, daß die Wühler alle Gesetzvorlagen zu beurteilen imstande sein müßten. Diese Bedingung er¬ füllt aber in unsern modernen Großstaaten mit ihren verwickelten Verhältnissen kein Mensch, auch keiner der höchsten Jntelligenzklasse. Einen Sinn hätte die Forderung nur, wenn die Wähler nicht Wähler, sondern Gesetzgeber sein sollten, wie das die Schweizer Staatsbürger im Fall eines Referendums sind. Der deutsche Reichstagswähler hat nicht Gesetze zu begutachten, sondern er hat nur Vertrauensmänner zu wählen, von denen er glaubt, daß sie imstande sein werden, wenn auch uicht alle, so doch einige Vorlagen richtig zu beurteilen. Der Reichstag hat dann Kommissionen zu wühlen, in denen sich die für jede Gruppe von Vorlagen Sachverständigen zusammenfinden. Der Wähler läßt sich gewöhnlich von der Erwägung leiten, ob der Kandidat wohl sein, des Wählers, Klassen- oder Standesintcresse gut vertreten werde. Das ist kein sehr erhabner oder idealer Standpunkt, aber da so ziemlich alle Wähler diesen Standpunkt einnehmen, fo gleichen sich die verschiednen Egoismen aus, und das Wohl des Ganzen bleibt leidlich gewahrt, und damit muß man sich zu¬ frieden geben in dieser unvollkommnen Welt. Messen wir nun einmal die Leistungen dieses auf dem nach Ammon schlechtesten Wahlsystem beruhenden Reichstages an dem Parteimaßstabe Ammons, der als Vertreter der badischen Intelligenz und als Feind der Ultramontanen und Demokraten doch unbedingt der nationalliberalen Partei angehört, und der ein ausgesprochner Bismarck- verehrer ist! Von allen großen Entwürfen Bismarcks ist nur einer gescheitert, das Tabakmonopol. In dessen Verwerfung waren aber fast alle Parteien einig, und seine heftigsten Gegner waren die badischen Nationalliberalen; ich selbst habe oft mit solchen darüber gestritten. Bis zum Jahre 1878 waren die Nationalliberalen, trotz des „schlechten" Wahlrechts, die stärkste Partei des Reichstags; wer sie dann an die Wand drückte, das war uicht der blinde Hödur der Intelligenz- und Steuerklasse ö — die sozialdemokratische Fraktion schmolz nach den Attentaten auf neun Mann zusammen —, sondern Bismarck durch seine neue Wirtschaftspolitik. Seit jenen Tagen der großen Umkehr ist die Gesetzgebung vorzugsweise auf zwei Gebieten thätig gewesen, auf dem so¬ genannten sozialen und auf dem wirtschaftlichen. Auf jenem haben wir zunächst *) Bismarck hat bekanntlich das preußische Zensuswahlrecht so genannt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/482>, abgerufen am 08.01.2025.