Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sozialanslese

die Arbeiterversicherung zu verzeichnen, die bekanntlich Bismcircks Werk ist.
Die Ära des Arbeiterschutzes aber hat unser jetziger Kaiser eingeleitet, und
obwohl ihm die Kartellparteien -- nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern
aus andern Gründen -- anfangs kühl gegenüberstanden, thun sich doch seit
einiger Zeit gerade die Nationcillibcralen unter der Führung des Freiherrn
von Hehl mit Vorschlägen zum Arbeiterschutz hervor. Die Sozialdemokraten
haben, wie ihnen unzähligemal vorgeworfen worden ist, gegen die meisten
Gesetze dieser beiden Gruppen gestimmt. Aus wirtschaftlichem Gebiet ist eine
Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die man als schutzzöllnerisch-agrarisch-
zttnftlerisch-reaktionär zu bezeichnen pflegt. Wenn man unter Intelligenz die
Gesamtheit der akademisch Gebildeten versteht, so hat ihre Mehrheit wahr¬
scheinlich wenig Freude an dieser Gesetzgebung gehabt. Aber der preußische
Adel, die Großindustrie, die Handwerker und die Bauern haben sich zu ihrer
Durchführung verbündet, und diese Klassen sind es ja, die nach Annäus
Ansicht herrschen sollen, und die sich des erblichen Besitzes der Intelligenz
erfreuen; der Reichstag hat also durchaus im Sinne Ammons gearbeitet.

Herr Ammon hat einen Bruder im Apostolat für die Sozialaristokratie:
Herrn Alexander Tille in Glasgow. Dieser steht auf derselben "natur¬
wissenschaftlichen" Grundlage. Wie Ammon leugnet er die Vererbbarkeit
erworbner Eigenschaften, bekämpft er den Neulamarckismus, lehrt er die Ent¬
stehung, Erhaltung und Verbesserung der edlern Menschenrassen durch die
Sozinlauslese im Kampfe ums Dasein; wie Ammon haßt er die Demokratie,
den Sozialismus, die Gewerkvereine. Und dieser Mann, der ihm in seinem
Denken und Fühlen und in der wissenschaftlichen Erkenntnis so nahe steht wie
kein andrer in der ganzen Kulturwelt, dieser Mann -- erklärt Krieg und
Militarismus für unsinnige, verderbliche, antiselektionistische Dinge, würde also
als deutscher Reichsbürger, wenn ihn nicht vielleicht parteitaktische, also außer¬
halb der Sache liegende Gründe zu einer andern Haltung bewogen, wahr¬
scheinlich gegen alle Militärvorlageu stimmen. Würden die beiden Herren auf
eine wüste Insel versetzt und gründeten einen Staat zusammen, so würden sie
einander, als konservative Partei und Opposition, in die Haare geraten. Es
ist wirklich eine recht kindliche Auffassung, daß die Regierungspartei allemal
die Partei der Gescheiten und die Gegenpartei die der Dummen sei, und daß
das allgemeine gleiche Wahlrecht den Dummen zum Siege über die Gescheiten
verhelfe. Wo immer es zwei Parteien im Staate giebt, da stehen Geschelte
Gescheiten gegenüber, und welche von beiden die Gescheiter" oder die eigentlich
Gescheiten sind, das bringt immer erst etliche Jahrzehnte oder Jahrhunderte
später die Weltgeschichte an den Tag. Die Dummen aber stellen auf beiden
Seiten den Chor oder Heerbann und bilden die Resonanz, und je größer die
Wählerschaften, je unbeholfner daher die Bewegungen der beiden Massen sind,
desto schwerer wird freilich den gescheiten Führern die Leitung, desto geringer


Sozialanslese

die Arbeiterversicherung zu verzeichnen, die bekanntlich Bismcircks Werk ist.
Die Ära des Arbeiterschutzes aber hat unser jetziger Kaiser eingeleitet, und
obwohl ihm die Kartellparteien — nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern
aus andern Gründen — anfangs kühl gegenüberstanden, thun sich doch seit
einiger Zeit gerade die Nationcillibcralen unter der Führung des Freiherrn
von Hehl mit Vorschlägen zum Arbeiterschutz hervor. Die Sozialdemokraten
haben, wie ihnen unzähligemal vorgeworfen worden ist, gegen die meisten
Gesetze dieser beiden Gruppen gestimmt. Aus wirtschaftlichem Gebiet ist eine
Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die man als schutzzöllnerisch-agrarisch-
zttnftlerisch-reaktionär zu bezeichnen pflegt. Wenn man unter Intelligenz die
Gesamtheit der akademisch Gebildeten versteht, so hat ihre Mehrheit wahr¬
scheinlich wenig Freude an dieser Gesetzgebung gehabt. Aber der preußische
Adel, die Großindustrie, die Handwerker und die Bauern haben sich zu ihrer
Durchführung verbündet, und diese Klassen sind es ja, die nach Annäus
Ansicht herrschen sollen, und die sich des erblichen Besitzes der Intelligenz
erfreuen; der Reichstag hat also durchaus im Sinne Ammons gearbeitet.

Herr Ammon hat einen Bruder im Apostolat für die Sozialaristokratie:
Herrn Alexander Tille in Glasgow. Dieser steht auf derselben „natur¬
wissenschaftlichen" Grundlage. Wie Ammon leugnet er die Vererbbarkeit
erworbner Eigenschaften, bekämpft er den Neulamarckismus, lehrt er die Ent¬
stehung, Erhaltung und Verbesserung der edlern Menschenrassen durch die
Sozinlauslese im Kampfe ums Dasein; wie Ammon haßt er die Demokratie,
den Sozialismus, die Gewerkvereine. Und dieser Mann, der ihm in seinem
Denken und Fühlen und in der wissenschaftlichen Erkenntnis so nahe steht wie
kein andrer in der ganzen Kulturwelt, dieser Mann — erklärt Krieg und
Militarismus für unsinnige, verderbliche, antiselektionistische Dinge, würde also
als deutscher Reichsbürger, wenn ihn nicht vielleicht parteitaktische, also außer¬
halb der Sache liegende Gründe zu einer andern Haltung bewogen, wahr¬
scheinlich gegen alle Militärvorlageu stimmen. Würden die beiden Herren auf
eine wüste Insel versetzt und gründeten einen Staat zusammen, so würden sie
einander, als konservative Partei und Opposition, in die Haare geraten. Es
ist wirklich eine recht kindliche Auffassung, daß die Regierungspartei allemal
die Partei der Gescheiten und die Gegenpartei die der Dummen sei, und daß
das allgemeine gleiche Wahlrecht den Dummen zum Siege über die Gescheiten
verhelfe. Wo immer es zwei Parteien im Staate giebt, da stehen Geschelte
Gescheiten gegenüber, und welche von beiden die Gescheiter» oder die eigentlich
Gescheiten sind, das bringt immer erst etliche Jahrzehnte oder Jahrhunderte
später die Weltgeschichte an den Tag. Die Dummen aber stellen auf beiden
Seiten den Chor oder Heerbann und bilden die Resonanz, und je größer die
Wählerschaften, je unbeholfner daher die Bewegungen der beiden Massen sind,
desto schwerer wird freilich den gescheiten Führern die Leitung, desto geringer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0483" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227385"/>
          <fw type="header" place="top"> Sozialanslese</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1740" prev="#ID_1739"> die Arbeiterversicherung zu verzeichnen, die bekanntlich Bismcircks Werk ist.<lb/>
Die Ära des Arbeiterschutzes aber hat unser jetziger Kaiser eingeleitet, und<lb/>
obwohl ihm die Kartellparteien &#x2014; nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern<lb/>
aus andern Gründen &#x2014; anfangs kühl gegenüberstanden, thun sich doch seit<lb/>
einiger Zeit gerade die Nationcillibcralen unter der Führung des Freiherrn<lb/>
von Hehl mit Vorschlägen zum Arbeiterschutz hervor. Die Sozialdemokraten<lb/>
haben, wie ihnen unzähligemal vorgeworfen worden ist, gegen die meisten<lb/>
Gesetze dieser beiden Gruppen gestimmt. Aus wirtschaftlichem Gebiet ist eine<lb/>
Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die man als schutzzöllnerisch-agrarisch-<lb/>
zttnftlerisch-reaktionär zu bezeichnen pflegt. Wenn man unter Intelligenz die<lb/>
Gesamtheit der akademisch Gebildeten versteht, so hat ihre Mehrheit wahr¬<lb/>
scheinlich wenig Freude an dieser Gesetzgebung gehabt. Aber der preußische<lb/>
Adel, die Großindustrie, die Handwerker und die Bauern haben sich zu ihrer<lb/>
Durchführung verbündet, und diese Klassen sind es ja, die nach Annäus<lb/>
Ansicht herrschen sollen, und die sich des erblichen Besitzes der Intelligenz<lb/>
erfreuen; der Reichstag hat also durchaus im Sinne Ammons gearbeitet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1741" next="#ID_1742"> Herr Ammon hat einen Bruder im Apostolat für die Sozialaristokratie:<lb/>
Herrn Alexander Tille in Glasgow. Dieser steht auf derselben &#x201E;natur¬<lb/>
wissenschaftlichen" Grundlage. Wie Ammon leugnet er die Vererbbarkeit<lb/>
erworbner Eigenschaften, bekämpft er den Neulamarckismus, lehrt er die Ent¬<lb/>
stehung, Erhaltung und Verbesserung der edlern Menschenrassen durch die<lb/>
Sozinlauslese im Kampfe ums Dasein; wie Ammon haßt er die Demokratie,<lb/>
den Sozialismus, die Gewerkvereine. Und dieser Mann, der ihm in seinem<lb/>
Denken und Fühlen und in der wissenschaftlichen Erkenntnis so nahe steht wie<lb/>
kein andrer in der ganzen Kulturwelt, dieser Mann &#x2014; erklärt Krieg und<lb/>
Militarismus für unsinnige, verderbliche, antiselektionistische Dinge, würde also<lb/>
als deutscher Reichsbürger, wenn ihn nicht vielleicht parteitaktische, also außer¬<lb/>
halb der Sache liegende Gründe zu einer andern Haltung bewogen, wahr¬<lb/>
scheinlich gegen alle Militärvorlageu stimmen. Würden die beiden Herren auf<lb/>
eine wüste Insel versetzt und gründeten einen Staat zusammen, so würden sie<lb/>
einander, als konservative Partei und Opposition, in die Haare geraten. Es<lb/>
ist wirklich eine recht kindliche Auffassung, daß die Regierungspartei allemal<lb/>
die Partei der Gescheiten und die Gegenpartei die der Dummen sei, und daß<lb/>
das allgemeine gleiche Wahlrecht den Dummen zum Siege über die Gescheiten<lb/>
verhelfe. Wo immer es zwei Parteien im Staate giebt, da stehen Geschelte<lb/>
Gescheiten gegenüber, und welche von beiden die Gescheiter» oder die eigentlich<lb/>
Gescheiten sind, das bringt immer erst etliche Jahrzehnte oder Jahrhunderte<lb/>
später die Weltgeschichte an den Tag. Die Dummen aber stellen auf beiden<lb/>
Seiten den Chor oder Heerbann und bilden die Resonanz, und je größer die<lb/>
Wählerschaften, je unbeholfner daher die Bewegungen der beiden Massen sind,<lb/>
desto schwerer wird freilich den gescheiten Führern die Leitung, desto geringer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0483] Sozialanslese die Arbeiterversicherung zu verzeichnen, die bekanntlich Bismcircks Werk ist. Die Ära des Arbeiterschutzes aber hat unser jetziger Kaiser eingeleitet, und obwohl ihm die Kartellparteien — nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern aus andern Gründen — anfangs kühl gegenüberstanden, thun sich doch seit einiger Zeit gerade die Nationcillibcralen unter der Führung des Freiherrn von Hehl mit Vorschlägen zum Arbeiterschutz hervor. Die Sozialdemokraten haben, wie ihnen unzähligemal vorgeworfen worden ist, gegen die meisten Gesetze dieser beiden Gruppen gestimmt. Aus wirtschaftlichem Gebiet ist eine Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die man als schutzzöllnerisch-agrarisch- zttnftlerisch-reaktionär zu bezeichnen pflegt. Wenn man unter Intelligenz die Gesamtheit der akademisch Gebildeten versteht, so hat ihre Mehrheit wahr¬ scheinlich wenig Freude an dieser Gesetzgebung gehabt. Aber der preußische Adel, die Großindustrie, die Handwerker und die Bauern haben sich zu ihrer Durchführung verbündet, und diese Klassen sind es ja, die nach Annäus Ansicht herrschen sollen, und die sich des erblichen Besitzes der Intelligenz erfreuen; der Reichstag hat also durchaus im Sinne Ammons gearbeitet. Herr Ammon hat einen Bruder im Apostolat für die Sozialaristokratie: Herrn Alexander Tille in Glasgow. Dieser steht auf derselben „natur¬ wissenschaftlichen" Grundlage. Wie Ammon leugnet er die Vererbbarkeit erworbner Eigenschaften, bekämpft er den Neulamarckismus, lehrt er die Ent¬ stehung, Erhaltung und Verbesserung der edlern Menschenrassen durch die Sozinlauslese im Kampfe ums Dasein; wie Ammon haßt er die Demokratie, den Sozialismus, die Gewerkvereine. Und dieser Mann, der ihm in seinem Denken und Fühlen und in der wissenschaftlichen Erkenntnis so nahe steht wie kein andrer in der ganzen Kulturwelt, dieser Mann — erklärt Krieg und Militarismus für unsinnige, verderbliche, antiselektionistische Dinge, würde also als deutscher Reichsbürger, wenn ihn nicht vielleicht parteitaktische, also außer¬ halb der Sache liegende Gründe zu einer andern Haltung bewogen, wahr¬ scheinlich gegen alle Militärvorlageu stimmen. Würden die beiden Herren auf eine wüste Insel versetzt und gründeten einen Staat zusammen, so würden sie einander, als konservative Partei und Opposition, in die Haare geraten. Es ist wirklich eine recht kindliche Auffassung, daß die Regierungspartei allemal die Partei der Gescheiten und die Gegenpartei die der Dummen sei, und daß das allgemeine gleiche Wahlrecht den Dummen zum Siege über die Gescheiten verhelfe. Wo immer es zwei Parteien im Staate giebt, da stehen Geschelte Gescheiten gegenüber, und welche von beiden die Gescheiter» oder die eigentlich Gescheiten sind, das bringt immer erst etliche Jahrzehnte oder Jahrhunderte später die Weltgeschichte an den Tag. Die Dummen aber stellen auf beiden Seiten den Chor oder Heerbann und bilden die Resonanz, und je größer die Wählerschaften, je unbeholfner daher die Bewegungen der beiden Massen sind, desto schwerer wird freilich den gescheiten Führern die Leitung, desto geringer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/483
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/483>, abgerufen am 09.01.2025.