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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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immer und überall beobachtet hatte: die Auswahl unter einer Fülle mannig¬
faltigster Erholungen und Genüsse, Sport und Gymnastik, die vielen geistigen
Interessen und Bethätigungen aller im Verein mit der materiellen Unab¬
hängigkeit der Frau und der daraus folgenden Rücksicht ans sie und ihr Ver¬
langen, sich auch selbst ausleben zu können, erhöhen die Qualität der Ge-
bornen, vermindern aber die Anzahl der Geburten, während die natürlichen
Triebe der Geschlechtsliebe, des unbewußten Wunsches der Mutterschaft selbst¬
verständlich immer stark genng bleiben, um die Erhaltung des Menschengeschlechts
unbedingt sicher zu stellen.

Über den Gang der Ereignisse, darüber, wie sich der große Umschwung
vollzogen hat, belehrt Dr, Leete seinen jungen Freund an der Hand von
Storivts Geschichte der großen Umwälzung. Den Beginn der Revolution
setzt dieser Historiker auf den 4. Juli 1776 fest, denn schon die Einleitung
zur Unabhängigkeitserklärung habe das gleiche Recht aller auf Leben, Freiheit
und Glück, damit also, wie immer klarer geworden sei, in rues auch die
wirtschaftliche Gleichheit aller verlangt. Hundert Jahre lang sei das Volk
allerdings wie hypnotisirt gewesen, ja es habe sich wirklich eingebildet, daß
sich Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit aufrecht erhalten lasse, und die
Worte Gleichheit und Freiheit nur auf politische Formen bezogen. Bald aber
führten die ungeheuerlichen Wucherungen des Privatkapitals dazu, daß die
Arbeiter Amerikas den Vorsprung einbüßten, den sie bis dahin vor den
Arbeitern der alten Länder gehabt hatten. Amerika, das über die ganze Welt
berühmt gewesen war als ein Land der guten Gelegenheiten, war das Land
der Monopole geworden, die Lage der Arbeiter war Anfang der siebziger
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts schon so gedrückt, daß Amerika export¬
fähig wurde, daß die amerikanischen Kapitalisten mit ihren Lohnsklaven (si-los
MUM) gegen die englischen, belgischen und deutschen in Wettbewerb treten
konnten. Die Farmer sahen sich um dieselbe Zeit in fürchterlicher Weise von
dem Kapital ausgesogen und schon den Tag herannahen, wo ihre Lage ärger
sein würde, als die der Kolonen des kaiserlichen Rom. Da besinnt sich das
Volk, daß es im allgemeinen Stimmrecht die unfehlbare Waffe hat, sich zu
befreien. Zuerst geht es sehr langsam, Wahlniederlage folgt ans Wahlnieder¬
lage: immer aufs neue siegt die Macht des Geldes. Das aber ist gerade der
Segen. Die Besten der Nation befürchteten damals gerade, daß die Kapitalisten
Zugeständnisse machen und dadurch den wirtschaftlichen Fortschritt jahrhunderte¬
lang verzögern würden. Nun aber dringt immer tiefer ins Volk die Über¬
zeugung ein, daß keine Teilrefvrm helfe, daß mit nichts andern, auszukommen
sei, als mit der dauernden, wirtschaftlichen Gleichheit aller. Das Tempo der
Entwicklung wird immer mehr beschleunigt, und als zu Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts zuerst die Partei des Umschwungs (rovolutionisw) in den Wahlen
die Mehrheit und damit den Auftrag des Volks erringt, die wirtschaftliche


immer und überall beobachtet hatte: die Auswahl unter einer Fülle mannig¬
faltigster Erholungen und Genüsse, Sport und Gymnastik, die vielen geistigen
Interessen und Bethätigungen aller im Verein mit der materiellen Unab¬
hängigkeit der Frau und der daraus folgenden Rücksicht ans sie und ihr Ver¬
langen, sich auch selbst ausleben zu können, erhöhen die Qualität der Ge-
bornen, vermindern aber die Anzahl der Geburten, während die natürlichen
Triebe der Geschlechtsliebe, des unbewußten Wunsches der Mutterschaft selbst¬
verständlich immer stark genng bleiben, um die Erhaltung des Menschengeschlechts
unbedingt sicher zu stellen.

Über den Gang der Ereignisse, darüber, wie sich der große Umschwung
vollzogen hat, belehrt Dr, Leete seinen jungen Freund an der Hand von
Storivts Geschichte der großen Umwälzung. Den Beginn der Revolution
setzt dieser Historiker auf den 4. Juli 1776 fest, denn schon die Einleitung
zur Unabhängigkeitserklärung habe das gleiche Recht aller auf Leben, Freiheit
und Glück, damit also, wie immer klarer geworden sei, in rues auch die
wirtschaftliche Gleichheit aller verlangt. Hundert Jahre lang sei das Volk
allerdings wie hypnotisirt gewesen, ja es habe sich wirklich eingebildet, daß
sich Freiheit ohne wirtschaftliche Gleichheit aufrecht erhalten lasse, und die
Worte Gleichheit und Freiheit nur auf politische Formen bezogen. Bald aber
führten die ungeheuerlichen Wucherungen des Privatkapitals dazu, daß die
Arbeiter Amerikas den Vorsprung einbüßten, den sie bis dahin vor den
Arbeitern der alten Länder gehabt hatten. Amerika, das über die ganze Welt
berühmt gewesen war als ein Land der guten Gelegenheiten, war das Land
der Monopole geworden, die Lage der Arbeiter war Anfang der siebziger
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts schon so gedrückt, daß Amerika export¬
fähig wurde, daß die amerikanischen Kapitalisten mit ihren Lohnsklaven (si-los
MUM) gegen die englischen, belgischen und deutschen in Wettbewerb treten
konnten. Die Farmer sahen sich um dieselbe Zeit in fürchterlicher Weise von
dem Kapital ausgesogen und schon den Tag herannahen, wo ihre Lage ärger
sein würde, als die der Kolonen des kaiserlichen Rom. Da besinnt sich das
Volk, daß es im allgemeinen Stimmrecht die unfehlbare Waffe hat, sich zu
befreien. Zuerst geht es sehr langsam, Wahlniederlage folgt ans Wahlnieder¬
lage: immer aufs neue siegt die Macht des Geldes. Das aber ist gerade der
Segen. Die Besten der Nation befürchteten damals gerade, daß die Kapitalisten
Zugeständnisse machen und dadurch den wirtschaftlichen Fortschritt jahrhunderte¬
lang verzögern würden. Nun aber dringt immer tiefer ins Volk die Über¬
zeugung ein, daß keine Teilrefvrm helfe, daß mit nichts andern, auszukommen
sei, als mit der dauernden, wirtschaftlichen Gleichheit aller. Das Tempo der
Entwicklung wird immer mehr beschleunigt, und als zu Anfang des zwanzigsten
Jahrhunderts zuerst die Partei des Umschwungs (rovolutionisw) in den Wahlen
die Mehrheit und damit den Auftrag des Volks erringt, die wirtschaftliche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/441>, abgerufen am 08.01.2025.