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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Bellamys Gleichheit

Gleichheit einzuführen, ist die Übergangsperiode eingeleitet. Der Übergang
vollzieht sich in der Weise, daß die ganzen Vereinigten Staaten langsam und
von oben herab zu einem produzirenden Konsumverein gemacht werden. Alles
vollzieht sich sowohl ohne Gewalt, als auch ohne sonderliche Störung. Weder
das Fallbeil noch der Galgen, noch das Feuer von Exekutionspelotons hat
irgend welchen Anteil an dem Siege der guten Sache.

"Gleichheit" ist der Form nach ein Roman, darf aber, wenn man gerecht
sein will, nicht als Roman beurteilt werden. Als epische Dichtung ist das
Buch ganz wertlos: die eingeführten Menschen interessiren keinen Augenblick,
sie sind nur Mannequins, behängt mit den Ideen Bellamys. Wie er aber die
Möglichkeit der ungeheuern Veränderung glaubhaft macht, seine anschauliche
Schilderung der neuen Zeit und der neuen Menschheit, das steht auf einer
hohen Stufe der Darstellungskuust, und hierin möchte ich den Hauptvorzug des
Buches sehen. Was die sozialistischen Theorien angeht, so ist daran, wie die
eben gegebne Darstellung zeigt, nichts neues. Auch in der Hauptsache, was
nämlich den Weg betrifft, der ins Wunderland führen soll, wiederholt er
eigentlich nur Vorhandues. Auch daß der Verfasser nicht von der Geistlichkeit,
wohl aber von der großen religiösen "Erweckung" (Krsat rsvival) mächtige
Hilfe erwartet, kann ihm weder als besondre Geistesthat noch als eine neue
Entdeckung angerechnet werden. Die Zeichen, daß man sich auf deu sozia¬
listischen Untergrund der Lehre Jesu besinnt und gerade deshalb in diesem
Sinne wieder fromm wird, mehren sich in allen Ländern der Christenheit.

Trotz alledem ist "Gleichheit" ein sehr anregendes und ein sehr lehrreiches
Buch: die Utopisten fangen an, unheimlich gescheit und praktisch zu werden.
Gerade diese unendlich vielen, wohl ausgearbeiteten Einzelheiten, das überlegne
Lächeln, die launige Anmut, womit ein Kolumbusei "ach dem andern auf die
Spitze gestellt wird, siud sehr eindringlich. Die plastische Fülle der Gesichte
wirkt ganz anders als der Vortrag abstrakter Theorien. Hat man sich erst
hineingelesen, so fesselt das Buch trotz seiner nnküustlerischen Komposition oder
vielmehr seiner Kompositionslvsigkeit, trotz mancher Längen und zahlreicher nu-
uötiger Wiederholungen, und man lebt dieses Leben am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts wirklich mit.

Allerdings, wenn mau dann das Buch zuklappt und die letzten Zeitungen
liest, oder wenn das Auge durch das Fenster zufällig auf den Schutzmann an
der nächsten Straßenecke fällt, der vielleicht selber maust oder unbescholtnen
Töchtern des Volks schamlos die Kleider vom Leibe reißt und sie brutaler
Untersuchung preisgiebt, aber trotzdem die Ordnung aufrecht erhält, Thron
und Altar schützt, dann kommt der Rückschlag: es scheint durchaus un¬
möglich, aus den heutigen Zuständen heraus jemals in irgend ein Land
der Liebe und der vernünftigen Regeldetri, zu einem aus dem Wett¬
bewerb unter völlig ehrlichen Bedingungen sich immer neu erzeugenden


Bellamys Gleichheit

Gleichheit einzuführen, ist die Übergangsperiode eingeleitet. Der Übergang
vollzieht sich in der Weise, daß die ganzen Vereinigten Staaten langsam und
von oben herab zu einem produzirenden Konsumverein gemacht werden. Alles
vollzieht sich sowohl ohne Gewalt, als auch ohne sonderliche Störung. Weder
das Fallbeil noch der Galgen, noch das Feuer von Exekutionspelotons hat
irgend welchen Anteil an dem Siege der guten Sache.

„Gleichheit" ist der Form nach ein Roman, darf aber, wenn man gerecht
sein will, nicht als Roman beurteilt werden. Als epische Dichtung ist das
Buch ganz wertlos: die eingeführten Menschen interessiren keinen Augenblick,
sie sind nur Mannequins, behängt mit den Ideen Bellamys. Wie er aber die
Möglichkeit der ungeheuern Veränderung glaubhaft macht, seine anschauliche
Schilderung der neuen Zeit und der neuen Menschheit, das steht auf einer
hohen Stufe der Darstellungskuust, und hierin möchte ich den Hauptvorzug des
Buches sehen. Was die sozialistischen Theorien angeht, so ist daran, wie die
eben gegebne Darstellung zeigt, nichts neues. Auch in der Hauptsache, was
nämlich den Weg betrifft, der ins Wunderland führen soll, wiederholt er
eigentlich nur Vorhandues. Auch daß der Verfasser nicht von der Geistlichkeit,
wohl aber von der großen religiösen „Erweckung" (Krsat rsvival) mächtige
Hilfe erwartet, kann ihm weder als besondre Geistesthat noch als eine neue
Entdeckung angerechnet werden. Die Zeichen, daß man sich auf deu sozia¬
listischen Untergrund der Lehre Jesu besinnt und gerade deshalb in diesem
Sinne wieder fromm wird, mehren sich in allen Ländern der Christenheit.

Trotz alledem ist „Gleichheit" ein sehr anregendes und ein sehr lehrreiches
Buch: die Utopisten fangen an, unheimlich gescheit und praktisch zu werden.
Gerade diese unendlich vielen, wohl ausgearbeiteten Einzelheiten, das überlegne
Lächeln, die launige Anmut, womit ein Kolumbusei »ach dem andern auf die
Spitze gestellt wird, siud sehr eindringlich. Die plastische Fülle der Gesichte
wirkt ganz anders als der Vortrag abstrakter Theorien. Hat man sich erst
hineingelesen, so fesselt das Buch trotz seiner nnküustlerischen Komposition oder
vielmehr seiner Kompositionslvsigkeit, trotz mancher Längen und zahlreicher nu-
uötiger Wiederholungen, und man lebt dieses Leben am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts wirklich mit.

Allerdings, wenn mau dann das Buch zuklappt und die letzten Zeitungen
liest, oder wenn das Auge durch das Fenster zufällig auf den Schutzmann an
der nächsten Straßenecke fällt, der vielleicht selber maust oder unbescholtnen
Töchtern des Volks schamlos die Kleider vom Leibe reißt und sie brutaler
Untersuchung preisgiebt, aber trotzdem die Ordnung aufrecht erhält, Thron
und Altar schützt, dann kommt der Rückschlag: es scheint durchaus un¬
möglich, aus den heutigen Zuständen heraus jemals in irgend ein Land
der Liebe und der vernünftigen Regeldetri, zu einem aus dem Wett¬
bewerb unter völlig ehrlichen Bedingungen sich immer neu erzeugenden


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[0442] Bellamys Gleichheit Gleichheit einzuführen, ist die Übergangsperiode eingeleitet. Der Übergang vollzieht sich in der Weise, daß die ganzen Vereinigten Staaten langsam und von oben herab zu einem produzirenden Konsumverein gemacht werden. Alles vollzieht sich sowohl ohne Gewalt, als auch ohne sonderliche Störung. Weder das Fallbeil noch der Galgen, noch das Feuer von Exekutionspelotons hat irgend welchen Anteil an dem Siege der guten Sache. „Gleichheit" ist der Form nach ein Roman, darf aber, wenn man gerecht sein will, nicht als Roman beurteilt werden. Als epische Dichtung ist das Buch ganz wertlos: die eingeführten Menschen interessiren keinen Augenblick, sie sind nur Mannequins, behängt mit den Ideen Bellamys. Wie er aber die Möglichkeit der ungeheuern Veränderung glaubhaft macht, seine anschauliche Schilderung der neuen Zeit und der neuen Menschheit, das steht auf einer hohen Stufe der Darstellungskuust, und hierin möchte ich den Hauptvorzug des Buches sehen. Was die sozialistischen Theorien angeht, so ist daran, wie die eben gegebne Darstellung zeigt, nichts neues. Auch in der Hauptsache, was nämlich den Weg betrifft, der ins Wunderland führen soll, wiederholt er eigentlich nur Vorhandues. Auch daß der Verfasser nicht von der Geistlichkeit, wohl aber von der großen religiösen „Erweckung" (Krsat rsvival) mächtige Hilfe erwartet, kann ihm weder als besondre Geistesthat noch als eine neue Entdeckung angerechnet werden. Die Zeichen, daß man sich auf deu sozia¬ listischen Untergrund der Lehre Jesu besinnt und gerade deshalb in diesem Sinne wieder fromm wird, mehren sich in allen Ländern der Christenheit. Trotz alledem ist „Gleichheit" ein sehr anregendes und ein sehr lehrreiches Buch: die Utopisten fangen an, unheimlich gescheit und praktisch zu werden. Gerade diese unendlich vielen, wohl ausgearbeiteten Einzelheiten, das überlegne Lächeln, die launige Anmut, womit ein Kolumbusei »ach dem andern auf die Spitze gestellt wird, siud sehr eindringlich. Die plastische Fülle der Gesichte wirkt ganz anders als der Vortrag abstrakter Theorien. Hat man sich erst hineingelesen, so fesselt das Buch trotz seiner nnküustlerischen Komposition oder vielmehr seiner Kompositionslvsigkeit, trotz mancher Längen und zahlreicher nu- uötiger Wiederholungen, und man lebt dieses Leben am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich mit. Allerdings, wenn mau dann das Buch zuklappt und die letzten Zeitungen liest, oder wenn das Auge durch das Fenster zufällig auf den Schutzmann an der nächsten Straßenecke fällt, der vielleicht selber maust oder unbescholtnen Töchtern des Volks schamlos die Kleider vom Leibe reißt und sie brutaler Untersuchung preisgiebt, aber trotzdem die Ordnung aufrecht erhält, Thron und Altar schützt, dann kommt der Rückschlag: es scheint durchaus un¬ möglich, aus den heutigen Zuständen heraus jemals in irgend ein Land der Liebe und der vernünftigen Regeldetri, zu einem aus dem Wett¬ bewerb unter völlig ehrlichen Bedingungen sich immer neu erzeugenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/442>, abgerufen am 07.01.2025.