Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Das deutsche Dorfwirtshaus jedem Litteraturmenschen, der den Ncitursinn von Rousseau an datirt, nicht Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören Das deutsche Dorfwirtshaus jedem Litteraturmenschen, der den Ncitursinn von Rousseau an datirt, nicht Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0038" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226940"/> <fw type="header" place="top"> Das deutsche Dorfwirtshaus</fw><lb/> <p xml:id="ID_67" prev="#ID_66"> jedem Litteraturmenschen, der den Ncitursinn von Rousseau an datirt, nicht<lb/> bloß die herrliche Lage mancher uralten Kapelle und Kirche, sondern die Aus¬<lb/> sicht von so manchem altberühmten Bergwirtshcms oder von der Bank vor einem<lb/> Fährhaus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das Naturgefühl<lb/> nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo sich ein Dichter hinsetzte, um eine<lb/> Aussicht zu bedichten; ebenso wenig wie das deutsche Gasthaus erst würdig<lb/> war, besungen und gerühmt zu werden, als Lessing seinen köstlichen, von dem<lb/> wackern Just so tief verachteten Wirt in der Minna von Barnhelm eingeführt<lb/> hatte, und Goethe sein Dorfwirtshaus von Wahlheim mit den zwei Linden,<lb/> unter deren ausgebreiteten Ästen („so vertraulich, so heimlich hab ich nicht<lb/> leicht ein Plätzchen gefunden") Werther seinen Kaffee trinkt.</p><lb/> <p xml:id="ID_68" next="#ID_69"> Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören<lb/> zum deutschen Leben. Sie machen es genußreich, beeinflussen es aber auch in<lb/> andrer Beziehung mehr, als man denkt. Es ist die Rückkehr der Stadt zu dem<lb/> Land, ans dem die Stadt herausgewachsen ist. Die arme Stadt! Solange<lb/> die deutschen Städte noch ihren Kranz von Ackern und Gärten hatten oder<lb/> nicht soweit hinausgerückt hatten wie jetzt, umschlossen viele selbst soviel Land,<lb/> als sie zum Atmen und zur Freude am Leben brauchten. In Stuttgart oder<lb/> Karlsruhe, so gut wie in Cleve oder Brieg, besaß vor fünfzig Jahren der<lb/> kleine Bürger und Beamte seinen Garten vor dem Thor, wenn nicht sogar vor<lb/> dem Haus, und die Frau des Tagelöhners bebaute eiuen Acker mit Kraut,<lb/> Kartoffeln, Rettichen und Obst, wovon mir ein Teil verkauft wurde. Am Sonntag<lb/> Nachmittag auf seinem eignen Laud leichte Arbeit zu thun und dann auf dein<lb/> Väukchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu selbstgebauten Rettich einen Krug<lb/> Most oder Bier zu leeren, war eine Erholung, bei der es dem Holzhauer nicht<lb/> einfiel, über das Wohlleben andrer Betrachtungen anzustellen. Jetzt giebt es eine<lb/> Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem schmutzigen Miethans und im<lb/> Anblick von ebensolchen abstoßenden Backsteinhöhlen verbringen, und denen Nasen<lb/> und Bäume nur leihweise zugänglich werden, wenn sie eine staubige und kost¬<lb/> spielige Eisenbahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Städte sind über die<lb/> einst grünen Flächen hingewachsen, und die Nachkommen derer, die dort ge¬<lb/> wohnt haben, suchen jetzt ihre Erholung in den halbländlichen Wirtshäusern<lb/> der Vorstädte, wo sie unter Schutt und Neubauten schon Natur zu finden<lb/> glauben. Es ist eine ärmlichere und doch kostspieligere Erholung, aber gerade<lb/> auf sie wird unser Volk nicht verzichten. Und ist sie nicht immer noch gesünder als<lb/> viele andre? Wenn in Deutschland dem minderbcgüterten Mann immer noch<lb/> ein größeres Maß von Lebensfreude vergönnt ist, als in deu meisten andern<lb/> Ländern Europas und Amerikas, so hat daran das ländliche und halbländliche<lb/> Wirtshaus seinen nicht zu unterschützenden Anteil. Je weiter die Wege, je<lb/> größer die Anziehung des Waldes und der Wiesen mit ihren Blumen und<lb/> Früchten, je schöner die Ausblicke, desto mehr tritt der materielle Genuß in<lb/> den Hintergrund, desto unschädlicher sind die Getränke, mit denen ein wohl-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0038]
Das deutsche Dorfwirtshaus
jedem Litteraturmenschen, der den Ncitursinn von Rousseau an datirt, nicht
bloß die herrliche Lage mancher uralten Kapelle und Kirche, sondern die Aus¬
sicht von so manchem altberühmten Bergwirtshcms oder von der Bank vor einem
Fährhaus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das Naturgefühl
nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo sich ein Dichter hinsetzte, um eine
Aussicht zu bedichten; ebenso wenig wie das deutsche Gasthaus erst würdig
war, besungen und gerühmt zu werden, als Lessing seinen köstlichen, von dem
wackern Just so tief verachteten Wirt in der Minna von Barnhelm eingeführt
hatte, und Goethe sein Dorfwirtshaus von Wahlheim mit den zwei Linden,
unter deren ausgebreiteten Ästen („so vertraulich, so heimlich hab ich nicht
leicht ein Plätzchen gefunden") Werther seinen Kaffee trinkt.
Die Ausflüge auf das Land, deren Ziel ein gutes Wirtshaus ist, gehören
zum deutschen Leben. Sie machen es genußreich, beeinflussen es aber auch in
andrer Beziehung mehr, als man denkt. Es ist die Rückkehr der Stadt zu dem
Land, ans dem die Stadt herausgewachsen ist. Die arme Stadt! Solange
die deutschen Städte noch ihren Kranz von Ackern und Gärten hatten oder
nicht soweit hinausgerückt hatten wie jetzt, umschlossen viele selbst soviel Land,
als sie zum Atmen und zur Freude am Leben brauchten. In Stuttgart oder
Karlsruhe, so gut wie in Cleve oder Brieg, besaß vor fünfzig Jahren der
kleine Bürger und Beamte seinen Garten vor dem Thor, wenn nicht sogar vor
dem Haus, und die Frau des Tagelöhners bebaute eiuen Acker mit Kraut,
Kartoffeln, Rettichen und Obst, wovon mir ein Teil verkauft wurde. Am Sonntag
Nachmittag auf seinem eignen Laud leichte Arbeit zu thun und dann auf dein
Väukchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu selbstgebauten Rettich einen Krug
Most oder Bier zu leeren, war eine Erholung, bei der es dem Holzhauer nicht
einfiel, über das Wohlleben andrer Betrachtungen anzustellen. Jetzt giebt es eine
Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem schmutzigen Miethans und im
Anblick von ebensolchen abstoßenden Backsteinhöhlen verbringen, und denen Nasen
und Bäume nur leihweise zugänglich werden, wenn sie eine staubige und kost¬
spielige Eisenbahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Städte sind über die
einst grünen Flächen hingewachsen, und die Nachkommen derer, die dort ge¬
wohnt haben, suchen jetzt ihre Erholung in den halbländlichen Wirtshäusern
der Vorstädte, wo sie unter Schutt und Neubauten schon Natur zu finden
glauben. Es ist eine ärmlichere und doch kostspieligere Erholung, aber gerade
auf sie wird unser Volk nicht verzichten. Und ist sie nicht immer noch gesünder als
viele andre? Wenn in Deutschland dem minderbcgüterten Mann immer noch
ein größeres Maß von Lebensfreude vergönnt ist, als in deu meisten andern
Ländern Europas und Amerikas, so hat daran das ländliche und halbländliche
Wirtshaus seinen nicht zu unterschützenden Anteil. Je weiter die Wege, je
größer die Anziehung des Waldes und der Wiesen mit ihren Blumen und
Früchten, je schöner die Ausblicke, desto mehr tritt der materielle Genuß in
den Hintergrund, desto unschädlicher sind die Getränke, mit denen ein wohl-
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