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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

Menschenverstand nicht ins Gesicht schlage oder seiner Spotte? Sie wird jedoch
den Fragenden im Munde verdreht und zu der Frage umgewandelt, ob ein
Kunstwerk dem sogenannten gesunden Menschenverstande, den Gewöhnungen
der Platten und geistig Armen genug thue? Sie wird mit der Beschuldigung
verknüpft, daß der gesunde Menschenverstand der Todfeind aller tiefern Weisheit,
aller Welterkenntnis, aller schaffenden Einbildungs- und Stimmungskraft, alles
geistigen Schwunges sei, während er einfach deren Grundlage ist, wie die Erd¬
fläche der Untergrund der Berge. In wunderlicher Verkennung des Lirsäo <zug>
g,b8urcwni ost gefüllt sich ein Teil der neuern Kunstlehrer darin, überall da
Größe, Tiefe, "Eigenart," schöpferisches Vermögen zu sehen, wo einfach Wider¬
sinn, Dunkelheit und gekünstelte Unnatur walten. Man gesteht zu, daß gewisse
Leistungen freilich dem platten Verstand nicht einleuchten können, aber in eben
dem Maße für bewundrungswürdig gelten müßten, als sie dieses inferioren
Verstandes bar seien. Und es sind nicht etwa nur die Verfasser philosophischer
Untersuchungen, die Erforscher der letzten Gründe und Abgründe des poetischen
und künstlerischen Schaffens, die diese Sprache sichren. Nein, die kläglichsten
Gesellen, die unfähig sind, überhaupt eine Individualität von der andern zu
unterscheiden, die nie über die Natur einer künstlerischen Aufgabe nachgedacht
haben, lassen sich in Hunderten von Zeitungen mit der Geringschätzung des
gefunden Menschenverstandes vernehmen, von dem ihnen selbst freilich ein so
geringes Maß verliehen worden ist, daß es nicht der Mühe lohnt, Wert auf
den Besitz zu legen. Das Publikum läßt sich auch hier von einigen mit
Sicherheit vorgebrachten und täglich wiederholten Redensarten imponiren. Zu
Hilfe kommt dem kritischen und ästhetischen Wirrwarr die verbreitetste Feigheit,
die unzähligen Irrlehren und Sektenbildungen förderlich geworden ist, die Ver¬
leugnung der eignen Überzeugung, sobald diese Überzeugung von irgend einer
Seite her beschimpft oder verdächtigt wird. Im Grunde siud unter tausend
Menschen keine zehn, die wirklich glauben, daß der gesunde Menschenverstand
ein Hemmnis für die Aufnahme und das Verständnis poetischer Werke und
beim Schaffen solcher völlig entbehrlich sei. Doch unter den neunhundertnnd-
nennzig, die vom Gegenteil überzeugt sind, finden sich freilich keine fünfzig,
die sich vou einem mit patziger Miene vorgebrachten geringschätzigen Wort
nicht einschüchtern ließen.

Darüber, daß der gesunde Menschenverstand allein kein Kunstwerk hervor¬
bringen kann und in einsamer Dürftigkeit auch keines Kunstwerks bedarf, ist
ja längst kein Streit mehr. Aber daraus zu folgern, daß er auf ein ver¬
schwindendes Teil reduzirt oder aus dem Gebiete der Kunst hinausgeödet
werden müsse, ist eine der zahllosen "modernen" Willkürlichkeiten, die mit der
Selbstverstümmelung des jungen Philosophen von Lapnta auf einer Linie
stehen. Auch in diesen Dingen giebt es ein Maß, unter das nicht hinab¬
gegangen werden kann. Wie sagt Prinz Heinz, als er Falstaffs Rechnung


vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

Menschenverstand nicht ins Gesicht schlage oder seiner Spotte? Sie wird jedoch
den Fragenden im Munde verdreht und zu der Frage umgewandelt, ob ein
Kunstwerk dem sogenannten gesunden Menschenverstande, den Gewöhnungen
der Platten und geistig Armen genug thue? Sie wird mit der Beschuldigung
verknüpft, daß der gesunde Menschenverstand der Todfeind aller tiefern Weisheit,
aller Welterkenntnis, aller schaffenden Einbildungs- und Stimmungskraft, alles
geistigen Schwunges sei, während er einfach deren Grundlage ist, wie die Erd¬
fläche der Untergrund der Berge. In wunderlicher Verkennung des Lirsäo <zug>
g,b8urcwni ost gefüllt sich ein Teil der neuern Kunstlehrer darin, überall da
Größe, Tiefe, „Eigenart," schöpferisches Vermögen zu sehen, wo einfach Wider¬
sinn, Dunkelheit und gekünstelte Unnatur walten. Man gesteht zu, daß gewisse
Leistungen freilich dem platten Verstand nicht einleuchten können, aber in eben
dem Maße für bewundrungswürdig gelten müßten, als sie dieses inferioren
Verstandes bar seien. Und es sind nicht etwa nur die Verfasser philosophischer
Untersuchungen, die Erforscher der letzten Gründe und Abgründe des poetischen
und künstlerischen Schaffens, die diese Sprache sichren. Nein, die kläglichsten
Gesellen, die unfähig sind, überhaupt eine Individualität von der andern zu
unterscheiden, die nie über die Natur einer künstlerischen Aufgabe nachgedacht
haben, lassen sich in Hunderten von Zeitungen mit der Geringschätzung des
gefunden Menschenverstandes vernehmen, von dem ihnen selbst freilich ein so
geringes Maß verliehen worden ist, daß es nicht der Mühe lohnt, Wert auf
den Besitz zu legen. Das Publikum läßt sich auch hier von einigen mit
Sicherheit vorgebrachten und täglich wiederholten Redensarten imponiren. Zu
Hilfe kommt dem kritischen und ästhetischen Wirrwarr die verbreitetste Feigheit,
die unzähligen Irrlehren und Sektenbildungen förderlich geworden ist, die Ver¬
leugnung der eignen Überzeugung, sobald diese Überzeugung von irgend einer
Seite her beschimpft oder verdächtigt wird. Im Grunde siud unter tausend
Menschen keine zehn, die wirklich glauben, daß der gesunde Menschenverstand
ein Hemmnis für die Aufnahme und das Verständnis poetischer Werke und
beim Schaffen solcher völlig entbehrlich sei. Doch unter den neunhundertnnd-
nennzig, die vom Gegenteil überzeugt sind, finden sich freilich keine fünfzig,
die sich vou einem mit patziger Miene vorgebrachten geringschätzigen Wort
nicht einschüchtern ließen.

Darüber, daß der gesunde Menschenverstand allein kein Kunstwerk hervor¬
bringen kann und in einsamer Dürftigkeit auch keines Kunstwerks bedarf, ist
ja längst kein Streit mehr. Aber daraus zu folgern, daß er auf ein ver¬
schwindendes Teil reduzirt oder aus dem Gebiete der Kunst hinausgeödet
werden müsse, ist eine der zahllosen „modernen" Willkürlichkeiten, die mit der
Selbstverstümmelung des jungen Philosophen von Lapnta auf einer Linie
stehen. Auch in diesen Dingen giebt es ein Maß, unter das nicht hinab¬
gegangen werden kann. Wie sagt Prinz Heinz, als er Falstaffs Rechnung


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[0034] vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand Menschenverstand nicht ins Gesicht schlage oder seiner Spotte? Sie wird jedoch den Fragenden im Munde verdreht und zu der Frage umgewandelt, ob ein Kunstwerk dem sogenannten gesunden Menschenverstande, den Gewöhnungen der Platten und geistig Armen genug thue? Sie wird mit der Beschuldigung verknüpft, daß der gesunde Menschenverstand der Todfeind aller tiefern Weisheit, aller Welterkenntnis, aller schaffenden Einbildungs- und Stimmungskraft, alles geistigen Schwunges sei, während er einfach deren Grundlage ist, wie die Erd¬ fläche der Untergrund der Berge. In wunderlicher Verkennung des Lirsäo <zug> g,b8urcwni ost gefüllt sich ein Teil der neuern Kunstlehrer darin, überall da Größe, Tiefe, „Eigenart," schöpferisches Vermögen zu sehen, wo einfach Wider¬ sinn, Dunkelheit und gekünstelte Unnatur walten. Man gesteht zu, daß gewisse Leistungen freilich dem platten Verstand nicht einleuchten können, aber in eben dem Maße für bewundrungswürdig gelten müßten, als sie dieses inferioren Verstandes bar seien. Und es sind nicht etwa nur die Verfasser philosophischer Untersuchungen, die Erforscher der letzten Gründe und Abgründe des poetischen und künstlerischen Schaffens, die diese Sprache sichren. Nein, die kläglichsten Gesellen, die unfähig sind, überhaupt eine Individualität von der andern zu unterscheiden, die nie über die Natur einer künstlerischen Aufgabe nachgedacht haben, lassen sich in Hunderten von Zeitungen mit der Geringschätzung des gefunden Menschenverstandes vernehmen, von dem ihnen selbst freilich ein so geringes Maß verliehen worden ist, daß es nicht der Mühe lohnt, Wert auf den Besitz zu legen. Das Publikum läßt sich auch hier von einigen mit Sicherheit vorgebrachten und täglich wiederholten Redensarten imponiren. Zu Hilfe kommt dem kritischen und ästhetischen Wirrwarr die verbreitetste Feigheit, die unzähligen Irrlehren und Sektenbildungen förderlich geworden ist, die Ver¬ leugnung der eignen Überzeugung, sobald diese Überzeugung von irgend einer Seite her beschimpft oder verdächtigt wird. Im Grunde siud unter tausend Menschen keine zehn, die wirklich glauben, daß der gesunde Menschenverstand ein Hemmnis für die Aufnahme und das Verständnis poetischer Werke und beim Schaffen solcher völlig entbehrlich sei. Doch unter den neunhundertnnd- nennzig, die vom Gegenteil überzeugt sind, finden sich freilich keine fünfzig, die sich vou einem mit patziger Miene vorgebrachten geringschätzigen Wort nicht einschüchtern ließen. Darüber, daß der gesunde Menschenverstand allein kein Kunstwerk hervor¬ bringen kann und in einsamer Dürftigkeit auch keines Kunstwerks bedarf, ist ja längst kein Streit mehr. Aber daraus zu folgern, daß er auf ein ver¬ schwindendes Teil reduzirt oder aus dem Gebiete der Kunst hinausgeödet werden müsse, ist eine der zahllosen „modernen" Willkürlichkeiten, die mit der Selbstverstümmelung des jungen Philosophen von Lapnta auf einer Linie stehen. Auch in diesen Dingen giebt es ein Maß, unter das nicht hinab¬ gegangen werden kann. Wie sagt Prinz Heinz, als er Falstaffs Rechnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/34>, abgerufen am 07.01.2025.