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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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von, guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

hoch die Kunstanschauung der Gegenwart immer ihre Begriffe sublimiren möge,
es ohne den Unterschied zwischen meisterhaft und stümperhaft, lebensvoll und
leblos, geistvoll und albern nie abgehen wird und es darum immer geraten
bleiben wird, für den Hausgebrauch etwas vom guten Geschmack zu behalten,
der diese trotz ihrer Vorläufigkeit doch nicht unwichtigen Unterschiede erkennen
lehrt?

In derselben Verdammnis wie der gute Geschmack befindet sich bei einer
Gruppe der jüngsten Ästhetiker der gesunde Menschenverstand. In den er¬
habnen Weltanschauungen des Tages ist er eines der verächtlichsten Elemente
geistigen Lebens, und jede Berufung auf ihn in Kunstdingen ein untrügliches
Kennzeichen hoffnungsloser Trivialität. Seit es sogar Mode geworden ist,
die geile Üppigkeit und rohe Grausamkeit der gelehrten Poeten der zweiten
schlesischen Schule als Blüte der Phantasickunst zu preisen, erscheint selbst das
Verdienst, das sich die verständige, klare Nüchternheit von Chr. Weiße bis
Gellert, ja bis Lessing um die Anfänge unsrer neuen poetischen Litteratur er¬
worben hat, in Frage gestellt. Niemand wird die Tage zurückwünschen, wo
man Spiele des Verstandes und Witzes sür Poesie hielt, aber für das Lob.
keinen Funken gesunden Menschenverstandes zu besitzen, würden Goethe und
Schiller, auch noch Fr. Hebbel und Gottfr. Keller doch bestens gedankt haben.
Der gewaltigste Berg, der die Züge der Wolken überragt, ruht mit seinem
Fuß auf dem platten, gemeinen Erdboden, und die schöpferische Kraft, die uns
die tiefsten Geheimnisse der Menschennatur offenbart, die erkennt, was die Welt
im Innersten zusammenheilt, muß irgendwo an das anknüpfen, was alle zu
begreifen und auch die Augen zu erkennen vermögen, die nur das Nächste sehen.
Jede Einbildung und jeder falsche Anspruch des gesunden Menschenverstandes
kann zurückgewiesen werden, außer der einen, daß er überall dabei sein müsse,
und dem andern, daß er keinen Stellvertreter habe. Die Kunst bedarf höherer
geistiger Kräfte als des schlichten Verstandes, aber sie kann diese niedern nicht
entbehren. Wenn nun eine gewisse Strömung der neuern Kritik ganzen Reihen
von Romanen, von Dramen, von Erzählungen gegenüber nicht nur auf jedes
Recht des Verstandes verzichtet, sondern in dem Mangel gesunden Menschen¬
verstandes einen besondern Vorzug erblickt, so muß man es noch für ein Glück
halten, daß dies offen herausgesagt wird. Dann pflegt wenigstens ein Teil
der Leser zu stützen und sich sogar die Frage vorzulegen, inwiefern Oberleder
ohne Sohlen gute Schuhe abgeben könne? Schlimmer stehts, wenn die
eigentliche Meinung hinter dunkeln Redensarten versteckt, mit anscheinend vor¬
nehmen Kunstwörter gestempelt wird, sodaß der Laienverstand nur halb er¬
raten kann, wovon eigentlich die Rede ist. Die Frage, um die es sich hier
handelt, wird von der modischen Ästhetik und Kritik meist falsch gestellt. Sie
kaun, wenige nüchterne Rechthaber ausgenommen, jederzeit nur dahin lauten:
ob ein dichterisches Werk, seiner höhern Vorzüge unbeschadet, dem gesunden


Grenzboten I 1898
von, guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

hoch die Kunstanschauung der Gegenwart immer ihre Begriffe sublimiren möge,
es ohne den Unterschied zwischen meisterhaft und stümperhaft, lebensvoll und
leblos, geistvoll und albern nie abgehen wird und es darum immer geraten
bleiben wird, für den Hausgebrauch etwas vom guten Geschmack zu behalten,
der diese trotz ihrer Vorläufigkeit doch nicht unwichtigen Unterschiede erkennen
lehrt?

In derselben Verdammnis wie der gute Geschmack befindet sich bei einer
Gruppe der jüngsten Ästhetiker der gesunde Menschenverstand. In den er¬
habnen Weltanschauungen des Tages ist er eines der verächtlichsten Elemente
geistigen Lebens, und jede Berufung auf ihn in Kunstdingen ein untrügliches
Kennzeichen hoffnungsloser Trivialität. Seit es sogar Mode geworden ist,
die geile Üppigkeit und rohe Grausamkeit der gelehrten Poeten der zweiten
schlesischen Schule als Blüte der Phantasickunst zu preisen, erscheint selbst das
Verdienst, das sich die verständige, klare Nüchternheit von Chr. Weiße bis
Gellert, ja bis Lessing um die Anfänge unsrer neuen poetischen Litteratur er¬
worben hat, in Frage gestellt. Niemand wird die Tage zurückwünschen, wo
man Spiele des Verstandes und Witzes sür Poesie hielt, aber für das Lob.
keinen Funken gesunden Menschenverstandes zu besitzen, würden Goethe und
Schiller, auch noch Fr. Hebbel und Gottfr. Keller doch bestens gedankt haben.
Der gewaltigste Berg, der die Züge der Wolken überragt, ruht mit seinem
Fuß auf dem platten, gemeinen Erdboden, und die schöpferische Kraft, die uns
die tiefsten Geheimnisse der Menschennatur offenbart, die erkennt, was die Welt
im Innersten zusammenheilt, muß irgendwo an das anknüpfen, was alle zu
begreifen und auch die Augen zu erkennen vermögen, die nur das Nächste sehen.
Jede Einbildung und jeder falsche Anspruch des gesunden Menschenverstandes
kann zurückgewiesen werden, außer der einen, daß er überall dabei sein müsse,
und dem andern, daß er keinen Stellvertreter habe. Die Kunst bedarf höherer
geistiger Kräfte als des schlichten Verstandes, aber sie kann diese niedern nicht
entbehren. Wenn nun eine gewisse Strömung der neuern Kritik ganzen Reihen
von Romanen, von Dramen, von Erzählungen gegenüber nicht nur auf jedes
Recht des Verstandes verzichtet, sondern in dem Mangel gesunden Menschen¬
verstandes einen besondern Vorzug erblickt, so muß man es noch für ein Glück
halten, daß dies offen herausgesagt wird. Dann pflegt wenigstens ein Teil
der Leser zu stützen und sich sogar die Frage vorzulegen, inwiefern Oberleder
ohne Sohlen gute Schuhe abgeben könne? Schlimmer stehts, wenn die
eigentliche Meinung hinter dunkeln Redensarten versteckt, mit anscheinend vor¬
nehmen Kunstwörter gestempelt wird, sodaß der Laienverstand nur halb er¬
raten kann, wovon eigentlich die Rede ist. Die Frage, um die es sich hier
handelt, wird von der modischen Ästhetik und Kritik meist falsch gestellt. Sie
kaun, wenige nüchterne Rechthaber ausgenommen, jederzeit nur dahin lauten:
ob ein dichterisches Werk, seiner höhern Vorzüge unbeschadet, dem gesunden


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[0033] von, guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand hoch die Kunstanschauung der Gegenwart immer ihre Begriffe sublimiren möge, es ohne den Unterschied zwischen meisterhaft und stümperhaft, lebensvoll und leblos, geistvoll und albern nie abgehen wird und es darum immer geraten bleiben wird, für den Hausgebrauch etwas vom guten Geschmack zu behalten, der diese trotz ihrer Vorläufigkeit doch nicht unwichtigen Unterschiede erkennen lehrt? In derselben Verdammnis wie der gute Geschmack befindet sich bei einer Gruppe der jüngsten Ästhetiker der gesunde Menschenverstand. In den er¬ habnen Weltanschauungen des Tages ist er eines der verächtlichsten Elemente geistigen Lebens, und jede Berufung auf ihn in Kunstdingen ein untrügliches Kennzeichen hoffnungsloser Trivialität. Seit es sogar Mode geworden ist, die geile Üppigkeit und rohe Grausamkeit der gelehrten Poeten der zweiten schlesischen Schule als Blüte der Phantasickunst zu preisen, erscheint selbst das Verdienst, das sich die verständige, klare Nüchternheit von Chr. Weiße bis Gellert, ja bis Lessing um die Anfänge unsrer neuen poetischen Litteratur er¬ worben hat, in Frage gestellt. Niemand wird die Tage zurückwünschen, wo man Spiele des Verstandes und Witzes sür Poesie hielt, aber für das Lob. keinen Funken gesunden Menschenverstandes zu besitzen, würden Goethe und Schiller, auch noch Fr. Hebbel und Gottfr. Keller doch bestens gedankt haben. Der gewaltigste Berg, der die Züge der Wolken überragt, ruht mit seinem Fuß auf dem platten, gemeinen Erdboden, und die schöpferische Kraft, die uns die tiefsten Geheimnisse der Menschennatur offenbart, die erkennt, was die Welt im Innersten zusammenheilt, muß irgendwo an das anknüpfen, was alle zu begreifen und auch die Augen zu erkennen vermögen, die nur das Nächste sehen. Jede Einbildung und jeder falsche Anspruch des gesunden Menschenverstandes kann zurückgewiesen werden, außer der einen, daß er überall dabei sein müsse, und dem andern, daß er keinen Stellvertreter habe. Die Kunst bedarf höherer geistiger Kräfte als des schlichten Verstandes, aber sie kann diese niedern nicht entbehren. Wenn nun eine gewisse Strömung der neuern Kritik ganzen Reihen von Romanen, von Dramen, von Erzählungen gegenüber nicht nur auf jedes Recht des Verstandes verzichtet, sondern in dem Mangel gesunden Menschen¬ verstandes einen besondern Vorzug erblickt, so muß man es noch für ein Glück halten, daß dies offen herausgesagt wird. Dann pflegt wenigstens ein Teil der Leser zu stützen und sich sogar die Frage vorzulegen, inwiefern Oberleder ohne Sohlen gute Schuhe abgeben könne? Schlimmer stehts, wenn die eigentliche Meinung hinter dunkeln Redensarten versteckt, mit anscheinend vor¬ nehmen Kunstwörter gestempelt wird, sodaß der Laienverstand nur halb er¬ raten kann, wovon eigentlich die Rede ist. Die Frage, um die es sich hier handelt, wird von der modischen Ästhetik und Kritik meist falsch gestellt. Sie kaun, wenige nüchterne Rechthaber ausgenommen, jederzeit nur dahin lauten: ob ein dichterisches Werk, seiner höhern Vorzüge unbeschadet, dem gesunden Grenzboten I 1898

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/33>, abgerufen am 07.01.2025.