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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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aus der Schenke zum Wilden Schweinskopf durchsieht? "O ungeheuer! Nur
für einen halben Pfennig Brot zu dieser unbilligen Menge Sekt." Ein gleich
schreiendes Mißverhältnis herrscht zwischen den Fluten von Stimmung und
subjektiver Weltverachtung und den Brosamen von Lebeuswcchrhett und ge¬
sundem Menschenverstand, die wir in endlosen Folgen neuester Romane und
Schauspiele gegeneinander zu halten haben. Die Kritik, die sich den Vergleich
schenkt, mochte das immerhin thun, sie sollte sich aber die Versäumnis des
Notwendigsten nicht als besondre Auszeichnung anrechnen. Daß einer und
viel gesundem Menschenverstand ein armselig geistloser Gesell sein kann, erleben
wir alle Tage, daß aber der Mangel an gesundem Menschenverstand geistvolle
Anschauung und schärferes Urteil verbürge, soll erst noch bewiesen werden.

Vor allem der Tageskritik, die sich ohne tiefern Anteil an irgend welchen
Kunsterscheinungen, ohne feineres Verständnis der individuellen Besonderheiten
Poetischer und künstlerischer Naturen die Lobsprüche gewisser Koterien und die
Betrachtungsweisen litterarischer Sonderlinge zu eigen macht, muß die Mahnung
gelten, dem gesunden Menschenverstand sein unverlierbares Recht zu wahren.
Für sie vor allem erklingt noch heute das Distichon der Goethe-Schillerschen
,, Genien":

Aber widrigers kenn ich auch nichts, als wenn sich durch Bande
Zarter geistiger Lieb Grobes mit Groben vermählt.
Und verächtlicher nichts, als die Bioral der Dämonen
In dem Munde des Volks, dem noch die Menschlichkeit fehlt!

Wenn man statt der "Moral" die Philosophie und die Ästhetik der Dämonen,
statt der Menschlichkeit den gesunden Menschenverstand setzt, so trifft der
Pfeil ins Schwarze. Es ist Zeit, höchste Zeit, daß in der Kunst- und
Litteraturkritik der Tagesblätter wieder etwas vom guten Geschmack und etwas
vom gesunden Menschenverstand zu Tage tritt. Die Maßstäbe beider sind un¬
zulänglich, gewiß! Aber das ebenso zuversichtliche als stümperhafte Hantiren
mit falsch verstandnen Phrasen, mit Aussprüchen und Offenbarungen tieferer
Geister, die nur von tiefern Geistern begriffen und in Zusammenhang gebracht
werden können, ist nachgerade unerträglich geworden, und das hausbackenste
Urteil, das wirklich auf einem Eindruck und einer Vergleichung mit der Natur
beruht, ist hochklingenden Redensarten vorzuziehen. Bis die Herren wirklich
fliegen können, mögen sie doch allerseits ihre Beine, die geraden wie die
krummen, und bis sie thatsächlich nicht mehr zu kauen brauchen, in Gottes
Namen auch ihre Zähne behalten.




aus der Schenke zum Wilden Schweinskopf durchsieht? „O ungeheuer! Nur
für einen halben Pfennig Brot zu dieser unbilligen Menge Sekt." Ein gleich
schreiendes Mißverhältnis herrscht zwischen den Fluten von Stimmung und
subjektiver Weltverachtung und den Brosamen von Lebeuswcchrhett und ge¬
sundem Menschenverstand, die wir in endlosen Folgen neuester Romane und
Schauspiele gegeneinander zu halten haben. Die Kritik, die sich den Vergleich
schenkt, mochte das immerhin thun, sie sollte sich aber die Versäumnis des
Notwendigsten nicht als besondre Auszeichnung anrechnen. Daß einer und
viel gesundem Menschenverstand ein armselig geistloser Gesell sein kann, erleben
wir alle Tage, daß aber der Mangel an gesundem Menschenverstand geistvolle
Anschauung und schärferes Urteil verbürge, soll erst noch bewiesen werden.

Vor allem der Tageskritik, die sich ohne tiefern Anteil an irgend welchen
Kunsterscheinungen, ohne feineres Verständnis der individuellen Besonderheiten
Poetischer und künstlerischer Naturen die Lobsprüche gewisser Koterien und die
Betrachtungsweisen litterarischer Sonderlinge zu eigen macht, muß die Mahnung
gelten, dem gesunden Menschenverstand sein unverlierbares Recht zu wahren.
Für sie vor allem erklingt noch heute das Distichon der Goethe-Schillerschen
,, Genien":

Aber widrigers kenn ich auch nichts, als wenn sich durch Bande
Zarter geistiger Lieb Grobes mit Groben vermählt.
Und verächtlicher nichts, als die Bioral der Dämonen
In dem Munde des Volks, dem noch die Menschlichkeit fehlt!

Wenn man statt der „Moral" die Philosophie und die Ästhetik der Dämonen,
statt der Menschlichkeit den gesunden Menschenverstand setzt, so trifft der
Pfeil ins Schwarze. Es ist Zeit, höchste Zeit, daß in der Kunst- und
Litteraturkritik der Tagesblätter wieder etwas vom guten Geschmack und etwas
vom gesunden Menschenverstand zu Tage tritt. Die Maßstäbe beider sind un¬
zulänglich, gewiß! Aber das ebenso zuversichtliche als stümperhafte Hantiren
mit falsch verstandnen Phrasen, mit Aussprüchen und Offenbarungen tieferer
Geister, die nur von tiefern Geistern begriffen und in Zusammenhang gebracht
werden können, ist nachgerade unerträglich geworden, und das hausbackenste
Urteil, das wirklich auf einem Eindruck und einer Vergleichung mit der Natur
beruht, ist hochklingenden Redensarten vorzuziehen. Bis die Herren wirklich
fliegen können, mögen sie doch allerseits ihre Beine, die geraden wie die
krummen, und bis sie thatsächlich nicht mehr zu kauen brauchen, in Gottes
Namen auch ihre Zähne behalten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/35>, abgerufen am 07.01.2025.