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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Madlene

ein, und der Alte steckte dieser oder jener Hausfrau ein Pfündchen Fleisch zur
Schnittersuppe ins Säcklein. Dazwischen herum bewegten sich der Znndschwamm-
beetz von Neustadt und der Kochlöffel-Tambnuer*) von der schnell und boten
ihre Waren aus. Und es ging hinaus und herein wie in einem Taubenschlag.

Madlene wickelte eben das übrig gebliebne Brot wieder ein, um es in den
Korb zu thun. Da trat die Triltschenchristel ein und steuerte gerade auf den Tisch
der Müsersgeschwister los, weil da noch ein Stuhl leer war. Mit lautem Lachen
trat sie heran, sodaß der Madlene das Brot vor die Füße fiel. Die Triltschen¬
christel setzte sich zwischen die Geschwister und ihren Korb neben den der Madlene.

Hols geschmeckt? Ich will auch a weng aß.

Der Große schob sein Bierglas der Christel zu: Da, trink! Es ist heut warm;
da dünkt ein kühles Trüulle gut.

Auf dein Wohl, Schlesinger! sagte die Christel lachend und that einen guten
Zug; dann packte sie aus zum einfachen Mahl und ließ sichs schmecken.

Madlene hatte ihr Brot aufgehoben, schon eingewickelt und in den Korb
gelegt. Sie strich die kleinen Brotkrümchen, die vor ihr auf dem Tisch lagen,
weg, brachte ihre Schürzenbandschleife in Ordnung, drückte am Zopfnest herum,
machte sich wieder in ihrem Korb zu schaffen, als ob sie sich überzeugen wollte,
daß nichts vergessen sei: sie war nicht imstande, es über ihre innere Unruhe zu
gewinnen, und mußte ihr in körperlichen Bewegungen Ableitung verschaffen. Am
liebsten wäre sie davongelaufen. Nicht auf Kohlen saß sie: viel tausendmal schlimmer
war für sie das Schicksal, neben der Triltschenchristel sitzen zu müssen, neben dem
Wesen, das mit ihr rang um das Höchste, was die Welt ihr bieten konnte, nur
das bis zur Verzehrung ersehnte Heim an der braven Mannesbrust -- acht lange,
leidvolle Jahre! Und lachend, garstig lachend that es jene bis heute. Und nun
pflanzt sie sich neben ihr ans, neben der leidenden Seele, um lachend über sie zu
triumphiren?

Ich hab was vergessen! stößt Madlene hervor und eilt davon. Straße auf,
Straße ab eilt sie durch die Stadt. Sie hört nicht, wenn sie angeredet wird.
Flieht sie, oder sucht sie? Man kann es ihr nicht ansehen; sie weiß es selbst nicht.
"Leer" ist sie; ihr Korb steht noch neben dem der Triltschenchristel im Schwan.
Plötzlich bleibt sie vor einer Bude stehen, deren Inhaber außer Badeschwämmen
auch Muscheln verkauft.

Für sechs Kreuzer Otterköpfle!

Der Krämer nimmt von einer Schnur drei kleine weiße Muscheln ab, wickelt
sie in ein Papier und überreicht sie dein Mädchen mit deu Worten: Ist Sie nicht
die Müsersmadleue? Ich soll Ihr viel Grüße ausrichten vom Andres Höpflein.
Vor vier Wochen hab ich ihn in Nürnberg gesprochen. Er käm bald.

Wie vor einem aus der Erde steigenden Drachen flieht Madlene die Markt¬
straße hinab. Und es zischt ihr nach mit giftigem Rauch. Da sieht sie von einer
Seitenstraße her den Gründe! kommen. Diese Steigerung der Hetze bringt sie fast
ums Bewußtsein, sodaß sie der Instinkt wieder dem Schwan zutreibt an die Seite
des Bruders, zurück zum Anfangspunkt der Hetze -- in deu Rachen des garstigen
Gelächters. Aber ehe sie die Gaststube betritt, schlüpft sie in den Schwanenhof und
setzt sich ans eine Stufe der nach dem Futterboden führenden Treppe. Da birgt
sie das Antlitz im Schoß und sitzt so ein Weilchen still, und ihr Atem wird
ruhiger.



Ein gewesener Tambour.
Madlene

ein, und der Alte steckte dieser oder jener Hausfrau ein Pfündchen Fleisch zur
Schnittersuppe ins Säcklein. Dazwischen herum bewegten sich der Znndschwamm-
beetz von Neustadt und der Kochlöffel-Tambnuer*) von der schnell und boten
ihre Waren aus. Und es ging hinaus und herein wie in einem Taubenschlag.

Madlene wickelte eben das übrig gebliebne Brot wieder ein, um es in den
Korb zu thun. Da trat die Triltschenchristel ein und steuerte gerade auf den Tisch
der Müsersgeschwister los, weil da noch ein Stuhl leer war. Mit lautem Lachen
trat sie heran, sodaß der Madlene das Brot vor die Füße fiel. Die Triltschen¬
christel setzte sich zwischen die Geschwister und ihren Korb neben den der Madlene.

Hols geschmeckt? Ich will auch a weng aß.

Der Große schob sein Bierglas der Christel zu: Da, trink! Es ist heut warm;
da dünkt ein kühles Trüulle gut.

Auf dein Wohl, Schlesinger! sagte die Christel lachend und that einen guten
Zug; dann packte sie aus zum einfachen Mahl und ließ sichs schmecken.

Madlene hatte ihr Brot aufgehoben, schon eingewickelt und in den Korb
gelegt. Sie strich die kleinen Brotkrümchen, die vor ihr auf dem Tisch lagen,
weg, brachte ihre Schürzenbandschleife in Ordnung, drückte am Zopfnest herum,
machte sich wieder in ihrem Korb zu schaffen, als ob sie sich überzeugen wollte,
daß nichts vergessen sei: sie war nicht imstande, es über ihre innere Unruhe zu
gewinnen, und mußte ihr in körperlichen Bewegungen Ableitung verschaffen. Am
liebsten wäre sie davongelaufen. Nicht auf Kohlen saß sie: viel tausendmal schlimmer
war für sie das Schicksal, neben der Triltschenchristel sitzen zu müssen, neben dem
Wesen, das mit ihr rang um das Höchste, was die Welt ihr bieten konnte, nur
das bis zur Verzehrung ersehnte Heim an der braven Mannesbrust — acht lange,
leidvolle Jahre! Und lachend, garstig lachend that es jene bis heute. Und nun
pflanzt sie sich neben ihr ans, neben der leidenden Seele, um lachend über sie zu
triumphiren?

Ich hab was vergessen! stößt Madlene hervor und eilt davon. Straße auf,
Straße ab eilt sie durch die Stadt. Sie hört nicht, wenn sie angeredet wird.
Flieht sie, oder sucht sie? Man kann es ihr nicht ansehen; sie weiß es selbst nicht.
„Leer" ist sie; ihr Korb steht noch neben dem der Triltschenchristel im Schwan.
Plötzlich bleibt sie vor einer Bude stehen, deren Inhaber außer Badeschwämmen
auch Muscheln verkauft.

Für sechs Kreuzer Otterköpfle!

Der Krämer nimmt von einer Schnur drei kleine weiße Muscheln ab, wickelt
sie in ein Papier und überreicht sie dein Mädchen mit deu Worten: Ist Sie nicht
die Müsersmadleue? Ich soll Ihr viel Grüße ausrichten vom Andres Höpflein.
Vor vier Wochen hab ich ihn in Nürnberg gesprochen. Er käm bald.

Wie vor einem aus der Erde steigenden Drachen flieht Madlene die Markt¬
straße hinab. Und es zischt ihr nach mit giftigem Rauch. Da sieht sie von einer
Seitenstraße her den Gründe! kommen. Diese Steigerung der Hetze bringt sie fast
ums Bewußtsein, sodaß sie der Instinkt wieder dem Schwan zutreibt an die Seite
des Bruders, zurück zum Anfangspunkt der Hetze — in deu Rachen des garstigen
Gelächters. Aber ehe sie die Gaststube betritt, schlüpft sie in den Schwanenhof und
setzt sich ans eine Stufe der nach dem Futterboden führenden Treppe. Da birgt
sie das Antlitz im Schoß und sitzt so ein Weilchen still, und ihr Atem wird
ruhiger.



Ein gewesener Tambour.
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[0336] Madlene ein, und der Alte steckte dieser oder jener Hausfrau ein Pfündchen Fleisch zur Schnittersuppe ins Säcklein. Dazwischen herum bewegten sich der Znndschwamm- beetz von Neustadt und der Kochlöffel-Tambnuer*) von der schnell und boten ihre Waren aus. Und es ging hinaus und herein wie in einem Taubenschlag. Madlene wickelte eben das übrig gebliebne Brot wieder ein, um es in den Korb zu thun. Da trat die Triltschenchristel ein und steuerte gerade auf den Tisch der Müsersgeschwister los, weil da noch ein Stuhl leer war. Mit lautem Lachen trat sie heran, sodaß der Madlene das Brot vor die Füße fiel. Die Triltschen¬ christel setzte sich zwischen die Geschwister und ihren Korb neben den der Madlene. Hols geschmeckt? Ich will auch a weng aß. Der Große schob sein Bierglas der Christel zu: Da, trink! Es ist heut warm; da dünkt ein kühles Trüulle gut. Auf dein Wohl, Schlesinger! sagte die Christel lachend und that einen guten Zug; dann packte sie aus zum einfachen Mahl und ließ sichs schmecken. Madlene hatte ihr Brot aufgehoben, schon eingewickelt und in den Korb gelegt. Sie strich die kleinen Brotkrümchen, die vor ihr auf dem Tisch lagen, weg, brachte ihre Schürzenbandschleife in Ordnung, drückte am Zopfnest herum, machte sich wieder in ihrem Korb zu schaffen, als ob sie sich überzeugen wollte, daß nichts vergessen sei: sie war nicht imstande, es über ihre innere Unruhe zu gewinnen, und mußte ihr in körperlichen Bewegungen Ableitung verschaffen. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Nicht auf Kohlen saß sie: viel tausendmal schlimmer war für sie das Schicksal, neben der Triltschenchristel sitzen zu müssen, neben dem Wesen, das mit ihr rang um das Höchste, was die Welt ihr bieten konnte, nur das bis zur Verzehrung ersehnte Heim an der braven Mannesbrust — acht lange, leidvolle Jahre! Und lachend, garstig lachend that es jene bis heute. Und nun pflanzt sie sich neben ihr ans, neben der leidenden Seele, um lachend über sie zu triumphiren? Ich hab was vergessen! stößt Madlene hervor und eilt davon. Straße auf, Straße ab eilt sie durch die Stadt. Sie hört nicht, wenn sie angeredet wird. Flieht sie, oder sucht sie? Man kann es ihr nicht ansehen; sie weiß es selbst nicht. „Leer" ist sie; ihr Korb steht noch neben dem der Triltschenchristel im Schwan. Plötzlich bleibt sie vor einer Bude stehen, deren Inhaber außer Badeschwämmen auch Muscheln verkauft. Für sechs Kreuzer Otterköpfle! Der Krämer nimmt von einer Schnur drei kleine weiße Muscheln ab, wickelt sie in ein Papier und überreicht sie dein Mädchen mit deu Worten: Ist Sie nicht die Müsersmadleue? Ich soll Ihr viel Grüße ausrichten vom Andres Höpflein. Vor vier Wochen hab ich ihn in Nürnberg gesprochen. Er käm bald. Wie vor einem aus der Erde steigenden Drachen flieht Madlene die Markt¬ straße hinab. Und es zischt ihr nach mit giftigem Rauch. Da sieht sie von einer Seitenstraße her den Gründe! kommen. Diese Steigerung der Hetze bringt sie fast ums Bewußtsein, sodaß sie der Instinkt wieder dem Schwan zutreibt an die Seite des Bruders, zurück zum Anfangspunkt der Hetze — in deu Rachen des garstigen Gelächters. Aber ehe sie die Gaststube betritt, schlüpft sie in den Schwanenhof und setzt sich ans eine Stufe der nach dem Futterboden führenden Treppe. Da birgt sie das Antlitz im Schoß und sitzt so ein Weilchen still, und ihr Atem wird ruhiger. Ein gewesener Tambour.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/336>, abgerufen am 08.01.2025.