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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

bald" das poetisch höherstehende und wertvollere Buch, Vulpius vielberufner
Nänberromcm eine zu äußerliche Befriedigung des tiefern Zeitbedürfnisfes nach
der Romantik sei, aber es hätte ihnen festgestandn, daß der "Sternbald" so
hoch über dem Werther stehe, als die Entwicklung von 1798 über der von
1774. Ein paar "Geschmackspfnsfen," die zur Zeit des Erscheinens von
"Werthers Leiden" den Goethischen Roman mit bösem oder schielendem Auge
betrachtet hätten, würden ihn um 1798 als das mustergültige Werk gegenüber
den ohnmächtigen Bestrebungen der Gegenwart angepriesen und den "Sternbald"
samt dem "Rinaldini" verworfen haben. Die Menschen von wirklich gutem
Geschmack, das heißt von frischer Empfänglichkeit, durchgebildeten Urteil und
der Fähigkeit, Natur und Leben in den Werken der Kunst zu erkennen, das
Ursprüngliche und Starke von nachgeahmten und Schwächlichen zu unter¬
scheiden, die Kraft und den Wert der hinter den Werken stehenden Persönlichkeit
abzuschätzen, würden ruhig geurteilt haben, daß "Werther" ein vollendetes Kunst¬
werk sei, in dem die dauernden Elemente die vergänglichen schwärmerischer
Sentimentalität weit überwogen, daß "Franz Sternbald," obschon aus poetischem
Geiste geboren und nicht ohne eine Fülle warm empfundner Einzelheiten und
gewinnender Schilderungen, doch zu wenig von dem ewigen Gepräge echter Natur
und zu viel von dem wechselnden geistiger Mode und flüchtiger Zeitstimmung trage,
um mit der ältern Schöpfung als gleichwertig gelten zu können, daß "Ninnldo
Rinaldini" dagegen ein uaturloses wie poesieloses Machwerk sei, von dürftiger
Einbildungskraft für dürftige Einbildungskraft hervorgebracht. Sie würden
gewußt haben, daß sie über den poetischen Gehalt, die Einwirkungen des
Lebens und gewisser geistiger Richtungen, über hundert Fragen der Kunst und
des Stils noch hundert Aufschlüsse und Belehrungen aller Art empfangen
könnten, aber daß kein Aufschluß und keine Belehrung den bezeichneten Gesamt¬
eindruck der genannten dichterischen Werke aufzuheben vermöge. Und sie hätten
zu der Forderung, die sichern Wertmesser ihres guten Geschmacks, ihres Ge¬
fühls für Leben und poetische Wahrheit mit Wertmessern zu vertauschen, die
den Jahreszahlen entlehnt sind, einfach gelacht.

Warum lachen die Menschen von gutem Geschmack heute nicht ebenso,
wenn man ihnen mit keinen: bessern Grund als mit den Jahreszahlen 1896,
1897, 1898 beweisen will, daß Fratzen von heute mehr bedeuteten als Ge¬
sichter, hölzerne Latten mehr als Gestalten, Kohlstrünke mehr als Bäume, daß
das Niedrige und das Widrige, wenn es von gestern ist, das Erhabne und
Unartige von vor zehn Jahren selbstverständlich überragen müsse, warum
lassen sie sich von dem geistigen Schwunge imponiren, der zwar noch immer
nicht zu fliege" vermag, aber es eines Tages vermögen wird und vor der
Hand wenigstens die überflüssigen Beine los ist? Warum mühen sie sich ab,
den willkürlichen Umläufen ihres eigensten Besitzes zu folgen, warum setzen sie
der Anarchie des Augenblicks nicht das feste Bewußtsein entgegen, daß, wie


vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand

bald" das poetisch höherstehende und wertvollere Buch, Vulpius vielberufner
Nänberromcm eine zu äußerliche Befriedigung des tiefern Zeitbedürfnisfes nach
der Romantik sei, aber es hätte ihnen festgestandn, daß der „Sternbald" so
hoch über dem Werther stehe, als die Entwicklung von 1798 über der von
1774. Ein paar „Geschmackspfnsfen," die zur Zeit des Erscheinens von
„Werthers Leiden" den Goethischen Roman mit bösem oder schielendem Auge
betrachtet hätten, würden ihn um 1798 als das mustergültige Werk gegenüber
den ohnmächtigen Bestrebungen der Gegenwart angepriesen und den „Sternbald"
samt dem „Rinaldini" verworfen haben. Die Menschen von wirklich gutem
Geschmack, das heißt von frischer Empfänglichkeit, durchgebildeten Urteil und
der Fähigkeit, Natur und Leben in den Werken der Kunst zu erkennen, das
Ursprüngliche und Starke von nachgeahmten und Schwächlichen zu unter¬
scheiden, die Kraft und den Wert der hinter den Werken stehenden Persönlichkeit
abzuschätzen, würden ruhig geurteilt haben, daß „Werther" ein vollendetes Kunst¬
werk sei, in dem die dauernden Elemente die vergänglichen schwärmerischer
Sentimentalität weit überwogen, daß „Franz Sternbald," obschon aus poetischem
Geiste geboren und nicht ohne eine Fülle warm empfundner Einzelheiten und
gewinnender Schilderungen, doch zu wenig von dem ewigen Gepräge echter Natur
und zu viel von dem wechselnden geistiger Mode und flüchtiger Zeitstimmung trage,
um mit der ältern Schöpfung als gleichwertig gelten zu können, daß „Ninnldo
Rinaldini" dagegen ein uaturloses wie poesieloses Machwerk sei, von dürftiger
Einbildungskraft für dürftige Einbildungskraft hervorgebracht. Sie würden
gewußt haben, daß sie über den poetischen Gehalt, die Einwirkungen des
Lebens und gewisser geistiger Richtungen, über hundert Fragen der Kunst und
des Stils noch hundert Aufschlüsse und Belehrungen aller Art empfangen
könnten, aber daß kein Aufschluß und keine Belehrung den bezeichneten Gesamt¬
eindruck der genannten dichterischen Werke aufzuheben vermöge. Und sie hätten
zu der Forderung, die sichern Wertmesser ihres guten Geschmacks, ihres Ge¬
fühls für Leben und poetische Wahrheit mit Wertmessern zu vertauschen, die
den Jahreszahlen entlehnt sind, einfach gelacht.

Warum lachen die Menschen von gutem Geschmack heute nicht ebenso,
wenn man ihnen mit keinen: bessern Grund als mit den Jahreszahlen 1896,
1897, 1898 beweisen will, daß Fratzen von heute mehr bedeuteten als Ge¬
sichter, hölzerne Latten mehr als Gestalten, Kohlstrünke mehr als Bäume, daß
das Niedrige und das Widrige, wenn es von gestern ist, das Erhabne und
Unartige von vor zehn Jahren selbstverständlich überragen müsse, warum
lassen sie sich von dem geistigen Schwunge imponiren, der zwar noch immer
nicht zu fliege» vermag, aber es eines Tages vermögen wird und vor der
Hand wenigstens die überflüssigen Beine los ist? Warum mühen sie sich ab,
den willkürlichen Umläufen ihres eigensten Besitzes zu folgen, warum setzen sie
der Anarchie des Augenblicks nicht das feste Bewußtsein entgegen, daß, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/32>, abgerufen am 07.01.2025.