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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zeitgenössische Memoiren

durch vieles Vorlesen Fritz Neuterscher Sachen, mehr "chargirt" haben, und
da er dem Publikum bis zuletzt gefiel, so wird der stärkere Auftrag, der den
Rezitator etwas mehr zum Komödianten macht, einem Wechsel des Zeitgeschmacks
Rechnung getragen und den gröbern Ansprüchen einer weniger empfindlichen
Zuhörerschaft nachgegeben haben. Einen noch weitern Fortschritt auf diesem
Wege bezeichnet dann, was Gen6e über die Mimik als Begleitung des Wortes
sagt: er ist der Überzeugung, daß die Unterstützung durch Gesichtsveränderung
und Gesten im weitesten Umfang zu gestatten sei. Wer die Worte des Dichters
zum vollen, vom Dichter beabsichtigten Ausdruck bringen wolle, der dürfe sich
nicht allein auf das gesprochn? Wort beschränken, sondern er müsse es im
Sinne des Dichters, also auch mit den Ausdrucksmitteln des Gesichts, des
Körpers, der Hände darstellen. "Denn wir sollen doch auch hierin der Natur
nachahmen, und wo käme es im Leben vor, daß jemand bei Worten, die etwas
besondres nachdrücklich sagen wollen, seine Rede nicht auch mit gewissen Hand¬
bewegungen ganz unwillkürlich unterstützte. Und wie sehr kann eine noch so
geringe Handbewegung den Sinn des Wortes zum kräftigen Ausdruck bringen!"
Gewiß, z. B. beim Solokupletsänger im Tingeltangel. Weil aber der Vor¬
leser von Dramen nach unsern Vorstellungen eine höhere Kunst auszuüben hat,
und ein Rezitator mehr sein soll als ein mißratener Schauspieler (dergleichen
man ja auch bisweilen austreten sieht), so halten wir diese auf die gröbern
Instinkte des Publikums gebaute "Mimik" des Vorlesers für falsch und ge¬
schmacklos.

Genve war auch Gelegcnheitsdichter, einzelne seiner Vaterlandslieder werden
nicht verloren gehen. Ein vortreffliches, das er für sein bestes hält, hat er
in dem Buche wiedergegeben: "Germanias Gruß" in vier achtzeiligen Strophen.
Es ist zu lang zum Abschreiben. Dafür mag ein wenig bekannter kleiner, tief-
empfundner Spruch aus dem Nachlaß Friedrich Rückerts, den Gemse mitteilt (er
hat einst von Koburg aus mit dem Dichter verkehrt), hier noch eine Stelle finden:

Wie der .Vogel aus dem Baum,
Der sich müd am Tage sang,
Nur noch zwitschert leis im Traum,
Dnsz es in der Nacht erklang:
Also werden meine Lieder
Leiser gegen meine Nacht;
Und die läutern sing ich wieder,
Wenn mein neuer Tag erwacht.

Gute Memoiren von Frauen sind bei uns selten. Männer können ja
von vielen Sachen sprechen, mit denen ihre Lebensstellung sie in die nächste
Berührung gebracht hat. Bei der Frau muß die Auffassung das meiste thun;
auf die Person, die schreibt, kommt es viel mehr an als dort. Wenn aber
dann einmal die Nichtige kommt, so giebt es dafür auch eine kapitale Leistung.
Zu den besten Männern Schleswig-Holsteins gehörte der 1872 in Schleswig


Zeitgenössische Memoiren

durch vieles Vorlesen Fritz Neuterscher Sachen, mehr „chargirt" haben, und
da er dem Publikum bis zuletzt gefiel, so wird der stärkere Auftrag, der den
Rezitator etwas mehr zum Komödianten macht, einem Wechsel des Zeitgeschmacks
Rechnung getragen und den gröbern Ansprüchen einer weniger empfindlichen
Zuhörerschaft nachgegeben haben. Einen noch weitern Fortschritt auf diesem
Wege bezeichnet dann, was Gen6e über die Mimik als Begleitung des Wortes
sagt: er ist der Überzeugung, daß die Unterstützung durch Gesichtsveränderung
und Gesten im weitesten Umfang zu gestatten sei. Wer die Worte des Dichters
zum vollen, vom Dichter beabsichtigten Ausdruck bringen wolle, der dürfe sich
nicht allein auf das gesprochn? Wort beschränken, sondern er müsse es im
Sinne des Dichters, also auch mit den Ausdrucksmitteln des Gesichts, des
Körpers, der Hände darstellen. „Denn wir sollen doch auch hierin der Natur
nachahmen, und wo käme es im Leben vor, daß jemand bei Worten, die etwas
besondres nachdrücklich sagen wollen, seine Rede nicht auch mit gewissen Hand¬
bewegungen ganz unwillkürlich unterstützte. Und wie sehr kann eine noch so
geringe Handbewegung den Sinn des Wortes zum kräftigen Ausdruck bringen!"
Gewiß, z. B. beim Solokupletsänger im Tingeltangel. Weil aber der Vor¬
leser von Dramen nach unsern Vorstellungen eine höhere Kunst auszuüben hat,
und ein Rezitator mehr sein soll als ein mißratener Schauspieler (dergleichen
man ja auch bisweilen austreten sieht), so halten wir diese auf die gröbern
Instinkte des Publikums gebaute „Mimik" des Vorlesers für falsch und ge¬
schmacklos.

Genve war auch Gelegcnheitsdichter, einzelne seiner Vaterlandslieder werden
nicht verloren gehen. Ein vortreffliches, das er für sein bestes hält, hat er
in dem Buche wiedergegeben: „Germanias Gruß" in vier achtzeiligen Strophen.
Es ist zu lang zum Abschreiben. Dafür mag ein wenig bekannter kleiner, tief-
empfundner Spruch aus dem Nachlaß Friedrich Rückerts, den Gemse mitteilt (er
hat einst von Koburg aus mit dem Dichter verkehrt), hier noch eine Stelle finden:

Wie der .Vogel aus dem Baum,
Der sich müd am Tage sang,
Nur noch zwitschert leis im Traum,
Dnsz es in der Nacht erklang:
Also werden meine Lieder
Leiser gegen meine Nacht;
Und die läutern sing ich wieder,
Wenn mein neuer Tag erwacht.

Gute Memoiren von Frauen sind bei uns selten. Männer können ja
von vielen Sachen sprechen, mit denen ihre Lebensstellung sie in die nächste
Berührung gebracht hat. Bei der Frau muß die Auffassung das meiste thun;
auf die Person, die schreibt, kommt es viel mehr an als dort. Wenn aber
dann einmal die Nichtige kommt, so giebt es dafür auch eine kapitale Leistung.
Zu den besten Männern Schleswig-Holsteins gehörte der 1872 in Schleswig


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[0327] Zeitgenössische Memoiren durch vieles Vorlesen Fritz Neuterscher Sachen, mehr „chargirt" haben, und da er dem Publikum bis zuletzt gefiel, so wird der stärkere Auftrag, der den Rezitator etwas mehr zum Komödianten macht, einem Wechsel des Zeitgeschmacks Rechnung getragen und den gröbern Ansprüchen einer weniger empfindlichen Zuhörerschaft nachgegeben haben. Einen noch weitern Fortschritt auf diesem Wege bezeichnet dann, was Gen6e über die Mimik als Begleitung des Wortes sagt: er ist der Überzeugung, daß die Unterstützung durch Gesichtsveränderung und Gesten im weitesten Umfang zu gestatten sei. Wer die Worte des Dichters zum vollen, vom Dichter beabsichtigten Ausdruck bringen wolle, der dürfe sich nicht allein auf das gesprochn? Wort beschränken, sondern er müsse es im Sinne des Dichters, also auch mit den Ausdrucksmitteln des Gesichts, des Körpers, der Hände darstellen. „Denn wir sollen doch auch hierin der Natur nachahmen, und wo käme es im Leben vor, daß jemand bei Worten, die etwas besondres nachdrücklich sagen wollen, seine Rede nicht auch mit gewissen Hand¬ bewegungen ganz unwillkürlich unterstützte. Und wie sehr kann eine noch so geringe Handbewegung den Sinn des Wortes zum kräftigen Ausdruck bringen!" Gewiß, z. B. beim Solokupletsänger im Tingeltangel. Weil aber der Vor¬ leser von Dramen nach unsern Vorstellungen eine höhere Kunst auszuüben hat, und ein Rezitator mehr sein soll als ein mißratener Schauspieler (dergleichen man ja auch bisweilen austreten sieht), so halten wir diese auf die gröbern Instinkte des Publikums gebaute „Mimik" des Vorlesers für falsch und ge¬ schmacklos. Genve war auch Gelegcnheitsdichter, einzelne seiner Vaterlandslieder werden nicht verloren gehen. Ein vortreffliches, das er für sein bestes hält, hat er in dem Buche wiedergegeben: „Germanias Gruß" in vier achtzeiligen Strophen. Es ist zu lang zum Abschreiben. Dafür mag ein wenig bekannter kleiner, tief- empfundner Spruch aus dem Nachlaß Friedrich Rückerts, den Gemse mitteilt (er hat einst von Koburg aus mit dem Dichter verkehrt), hier noch eine Stelle finden: Wie der .Vogel aus dem Baum, Der sich müd am Tage sang, Nur noch zwitschert leis im Traum, Dnsz es in der Nacht erklang: Also werden meine Lieder Leiser gegen meine Nacht; Und die läutern sing ich wieder, Wenn mein neuer Tag erwacht. Gute Memoiren von Frauen sind bei uns selten. Männer können ja von vielen Sachen sprechen, mit denen ihre Lebensstellung sie in die nächste Berührung gebracht hat. Bei der Frau muß die Auffassung das meiste thun; auf die Person, die schreibt, kommt es viel mehr an als dort. Wenn aber dann einmal die Nichtige kommt, so giebt es dafür auch eine kapitale Leistung. Zu den besten Männern Schleswig-Holsteins gehörte der 1872 in Schleswig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/327>, abgerufen am 08.01.2025.