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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zeitgenössische Memoiren

Den Märzaufstand in Berlin hatte Gen6e schon als Vierundzwcmzig-
jühriger erlebt und aus allernächster Nähe. Man wird seine Berichte gern
lesen, aber sie enthalten nichts neues und sind in Bezug auf einzelnes, z. B.
den ermordeten Posten vor der Bank in der Jägerstraße, Seite 66, schon
durch andre bekannt gewordne Zeugnisse überholt. Aber ganz außerordentlich
unterrichtend sind Genves Erzählungen aus den Theaterzuständen Berlins vor
1848 und aus dem Leben der Schriftsteller. Hier ziehen sie höchst leibhaftig
und noch jung an uns vorüber, denen man noch bis in die sechziger Jahre
als Reliquien begegnen konnte mit allerlei kleinen Geschichten aus älterer Zeit,
die ihnen anhingen: Kossak, der unvergleichliche Musikrezensent und Plauderer,
Klein, der Verfasser des ungeheuerlichen Buches, das er Geschichte des Dramas
nannte, der zierliche, pathetische Titus Ullrich, dessen philosophisch-episches
"Hohes Lied" mit dem durch zweiundzwanzig Druckbogen sich hindurchziehenden
Grundgedanken "Und immer übrig bleibt allein -- der Mensch" die Zensur
im Winter 1844/45, wahrscheinlich nicht zum Glück des Autors, Passiren ließ,
der schlaue kleine Kalisch, der den Geist der Zeit zu erfassen und in klingenden
Erfolg umzuwandeln verstand, und viele andre. Der "Eckensteher Rente"
gehört übrigens schon Holtei an (das "Trauerspiel in Berlin," Ende der
dreißiger Jahre). Von bekannten Litteraten, mit denen der Verfasser später
verkehrt hat, ist hauptsächlich Gutzkow zu nennen; daß dieser einem durch diese
Schilderungen lieber würde, kann man nicht sagen.

Genve ist dem größern Publikum hauptsächlich als Vorleser bekannt ge¬
worden, und in diesem Fach, das ja nicht allzu häufig gut besetzt ist, wird er
noch lange in Erinnerung bleiben. Er erzählt uus, wie er zu dieser Beschäf¬
tigung gekommen sei, die er dann, seit er die Redaktion in Koburg niedergelegt
hatte, als Hauptberuf ausbildete und lange ausübte. In einem besondern
kleinen Abschnitte spricht er auch über die Technik des Vortrags, die er sich
bei Dramen zuerst an Sheridcms Lasterschule zugelegt habe, sodaß er "fünf
bis sechs Personen in schnellem Tempo, und jede an der Sprechart erkennbar,
durch einander sprechen und sogar lachen ließ," und sein Hausarzt ihm sagte,
er trete seinen Kehlkopf mit Füßen. Er sieht in diesen Stimmkünsten keinen
"eigentlichen Kunstzwcck" -- was doch aber selbstverständlich ist --, sondern
ein Mittel, die Personen des Dramas nach einmaliger Nennung nun allein
weiterlaufen zu lassen. Dies mußte vor allem im Lustspiel zu einem sehr
starken Naturalisiren führen, dem der Verfasser das Wort redet, und das ja
sür das zuhörende Publikum sehr bequem ist. Wer aber Goethes Bemerkungen
über Rezitiren und Deklamiren im Sinne hat und sich an Erzählungen über
die berühmten Vorleser früherer Zeit -- Tieck und Holtei -- erinnert, wird
fragen, ob nicht doch eine, wenn ich so sagen soll, zurückhaltendere Behandlung
angemessener wäre, weil sie der Kunst des Vorlesens eine gewisse Höhe sichert.
Das vollkommenste Bild eines Vorlesers war für mich Palleske in seiner
frühern Zeit (Ende der fünfziger Jahre). Später soll er, vielleicht veranlaßt


Zeitgenössische Memoiren

Den Märzaufstand in Berlin hatte Gen6e schon als Vierundzwcmzig-
jühriger erlebt und aus allernächster Nähe. Man wird seine Berichte gern
lesen, aber sie enthalten nichts neues und sind in Bezug auf einzelnes, z. B.
den ermordeten Posten vor der Bank in der Jägerstraße, Seite 66, schon
durch andre bekannt gewordne Zeugnisse überholt. Aber ganz außerordentlich
unterrichtend sind Genves Erzählungen aus den Theaterzuständen Berlins vor
1848 und aus dem Leben der Schriftsteller. Hier ziehen sie höchst leibhaftig
und noch jung an uns vorüber, denen man noch bis in die sechziger Jahre
als Reliquien begegnen konnte mit allerlei kleinen Geschichten aus älterer Zeit,
die ihnen anhingen: Kossak, der unvergleichliche Musikrezensent und Plauderer,
Klein, der Verfasser des ungeheuerlichen Buches, das er Geschichte des Dramas
nannte, der zierliche, pathetische Titus Ullrich, dessen philosophisch-episches
„Hohes Lied" mit dem durch zweiundzwanzig Druckbogen sich hindurchziehenden
Grundgedanken „Und immer übrig bleibt allein — der Mensch" die Zensur
im Winter 1844/45, wahrscheinlich nicht zum Glück des Autors, Passiren ließ,
der schlaue kleine Kalisch, der den Geist der Zeit zu erfassen und in klingenden
Erfolg umzuwandeln verstand, und viele andre. Der „Eckensteher Rente"
gehört übrigens schon Holtei an (das „Trauerspiel in Berlin," Ende der
dreißiger Jahre). Von bekannten Litteraten, mit denen der Verfasser später
verkehrt hat, ist hauptsächlich Gutzkow zu nennen; daß dieser einem durch diese
Schilderungen lieber würde, kann man nicht sagen.

Genve ist dem größern Publikum hauptsächlich als Vorleser bekannt ge¬
worden, und in diesem Fach, das ja nicht allzu häufig gut besetzt ist, wird er
noch lange in Erinnerung bleiben. Er erzählt uus, wie er zu dieser Beschäf¬
tigung gekommen sei, die er dann, seit er die Redaktion in Koburg niedergelegt
hatte, als Hauptberuf ausbildete und lange ausübte. In einem besondern
kleinen Abschnitte spricht er auch über die Technik des Vortrags, die er sich
bei Dramen zuerst an Sheridcms Lasterschule zugelegt habe, sodaß er „fünf
bis sechs Personen in schnellem Tempo, und jede an der Sprechart erkennbar,
durch einander sprechen und sogar lachen ließ," und sein Hausarzt ihm sagte,
er trete seinen Kehlkopf mit Füßen. Er sieht in diesen Stimmkünsten keinen
„eigentlichen Kunstzwcck" — was doch aber selbstverständlich ist —, sondern
ein Mittel, die Personen des Dramas nach einmaliger Nennung nun allein
weiterlaufen zu lassen. Dies mußte vor allem im Lustspiel zu einem sehr
starken Naturalisiren führen, dem der Verfasser das Wort redet, und das ja
sür das zuhörende Publikum sehr bequem ist. Wer aber Goethes Bemerkungen
über Rezitiren und Deklamiren im Sinne hat und sich an Erzählungen über
die berühmten Vorleser früherer Zeit — Tieck und Holtei — erinnert, wird
fragen, ob nicht doch eine, wenn ich so sagen soll, zurückhaltendere Behandlung
angemessener wäre, weil sie der Kunst des Vorlesens eine gewisse Höhe sichert.
Das vollkommenste Bild eines Vorlesers war für mich Palleske in seiner
frühern Zeit (Ende der fünfziger Jahre). Später soll er, vielleicht veranlaßt


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[0326] Zeitgenössische Memoiren Den Märzaufstand in Berlin hatte Gen6e schon als Vierundzwcmzig- jühriger erlebt und aus allernächster Nähe. Man wird seine Berichte gern lesen, aber sie enthalten nichts neues und sind in Bezug auf einzelnes, z. B. den ermordeten Posten vor der Bank in der Jägerstraße, Seite 66, schon durch andre bekannt gewordne Zeugnisse überholt. Aber ganz außerordentlich unterrichtend sind Genves Erzählungen aus den Theaterzuständen Berlins vor 1848 und aus dem Leben der Schriftsteller. Hier ziehen sie höchst leibhaftig und noch jung an uns vorüber, denen man noch bis in die sechziger Jahre als Reliquien begegnen konnte mit allerlei kleinen Geschichten aus älterer Zeit, die ihnen anhingen: Kossak, der unvergleichliche Musikrezensent und Plauderer, Klein, der Verfasser des ungeheuerlichen Buches, das er Geschichte des Dramas nannte, der zierliche, pathetische Titus Ullrich, dessen philosophisch-episches „Hohes Lied" mit dem durch zweiundzwanzig Druckbogen sich hindurchziehenden Grundgedanken „Und immer übrig bleibt allein — der Mensch" die Zensur im Winter 1844/45, wahrscheinlich nicht zum Glück des Autors, Passiren ließ, der schlaue kleine Kalisch, der den Geist der Zeit zu erfassen und in klingenden Erfolg umzuwandeln verstand, und viele andre. Der „Eckensteher Rente" gehört übrigens schon Holtei an (das „Trauerspiel in Berlin," Ende der dreißiger Jahre). Von bekannten Litteraten, mit denen der Verfasser später verkehrt hat, ist hauptsächlich Gutzkow zu nennen; daß dieser einem durch diese Schilderungen lieber würde, kann man nicht sagen. Genve ist dem größern Publikum hauptsächlich als Vorleser bekannt ge¬ worden, und in diesem Fach, das ja nicht allzu häufig gut besetzt ist, wird er noch lange in Erinnerung bleiben. Er erzählt uus, wie er zu dieser Beschäf¬ tigung gekommen sei, die er dann, seit er die Redaktion in Koburg niedergelegt hatte, als Hauptberuf ausbildete und lange ausübte. In einem besondern kleinen Abschnitte spricht er auch über die Technik des Vortrags, die er sich bei Dramen zuerst an Sheridcms Lasterschule zugelegt habe, sodaß er „fünf bis sechs Personen in schnellem Tempo, und jede an der Sprechart erkennbar, durch einander sprechen und sogar lachen ließ," und sein Hausarzt ihm sagte, er trete seinen Kehlkopf mit Füßen. Er sieht in diesen Stimmkünsten keinen „eigentlichen Kunstzwcck" — was doch aber selbstverständlich ist —, sondern ein Mittel, die Personen des Dramas nach einmaliger Nennung nun allein weiterlaufen zu lassen. Dies mußte vor allem im Lustspiel zu einem sehr starken Naturalisiren führen, dem der Verfasser das Wort redet, und das ja sür das zuhörende Publikum sehr bequem ist. Wer aber Goethes Bemerkungen über Rezitiren und Deklamiren im Sinne hat und sich an Erzählungen über die berühmten Vorleser früherer Zeit — Tieck und Holtei — erinnert, wird fragen, ob nicht doch eine, wenn ich so sagen soll, zurückhaltendere Behandlung angemessener wäre, weil sie der Kunst des Vorlesens eine gewisse Höhe sichert. Das vollkommenste Bild eines Vorlesers war für mich Palleske in seiner frühern Zeit (Ende der fünfziger Jahre). Später soll er, vielleicht veranlaßt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/326>, abgerufen am 07.01.2025.