Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Zur neuesten Litteraturgeschichte der andre für jenen Teil? Sie hatten eine zusammenhängende Weltanschauung, Oder denken wir an einen der letzten, die uns noch von den ältern Darin haben wir wieder die Weite des Blicks, die Menge der Kenntnisse, Zur neuesten Litteraturgeschichte der andre für jenen Teil? Sie hatten eine zusammenhängende Weltanschauung, Oder denken wir an einen der letzten, die uns noch von den ältern Darin haben wir wieder die Weite des Blicks, die Menge der Kenntnisse, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227225"/> <fw type="header" place="top"> Zur neuesten Litteraturgeschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1068" prev="#ID_1067"> der andre für jenen Teil? Sie hatten eine zusammenhängende Weltanschauung,<lb/> und diese beruhte zuletzt auf einer großen Summe erworbner Kenntnisse, die<lb/> sie zugleich befähigte, in den Fächern des Lebens auch etwas ganz bestimmtes<lb/> zu leisten. Was sie lehrten, das kannten sie auch. Wie leicht und windig,<lb/> alltäglich und zufällig erscheint dagegen alles, was man als nach 1870 ent-<lb/> standne schöne Litteratur bezeichnet! Könnte man sich diese unsicher hin- und<lb/> herfahrenden Dichter, die meistens noch mit der Grammatik im Streit liegen,<lb/> auch wohl als Lehrer ihrer Zeitgenossen denken? Höchstens doch als ihre<lb/> Unterhalter oder Spaßmacher. Greifen wir noch aus den kürzlich Verstorbnen<lb/> zwei ganz verschiedne Erscheinungen zufällig heraus, einen Dichter und einen<lb/> Prosaiker, Rückert und Freytag: welch eine Weite des Gesichtskreises, was<lb/> für ein Umfang von Kenntnissen tritt uns bei ihnen entgegen! Einem sorg¬<lb/> fältigen Beobachter muß an Freytags Journalisten in höherm Maße die Be¬<lb/> obachtung und das fein Studirte auffallen, als die etwaige Genialität, die<lb/> Erfindung; das Stück ist dem Dichter wahrlich nicht in den Schoß gefallen.<lb/> Wir sehen und lesen es nun bald seit fünfzig Jahren, und es wirkt mit der¬<lb/> selben Frische wie am ersten Tage. Von welchem der seit 1870 entstandnen<lb/> Dramen ließe sich das erwarten?</p><lb/> <p xml:id="ID_1069" next="#ID_1070"> Oder denken wir an einen der letzten, die uns noch von den ältern<lb/> Dichtern geblieben sind. Paul Heyse, den seine jüngsten Fachgenossen nur<lb/> noch als Formkünstler anzusehen Pflegen, hat allerdings vieles geschrieben, was<lb/> uus kalt läßt, und was nicht weiter leben wird, weil uns sein Inhalt nichts<lb/> angeht. Das gilt namentlich von manchen italienischen Stoffen; wissen¬<lb/> schaftlich genommen, könnten sie uns zum Teil vielleicht noch beschäftigen,<lb/> poetisch nicht. Nun nehme man aber den kürzlich erschienenen Band: Neue<lb/> Gedichte und Jugendlieder (Berlin, W. Hertz) in die Hand. Darin sagt<lb/> der bald siebzigjährige:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_8" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_1070" prev="#ID_1069" next="#ID_1071"> Darin haben wir wieder die Weite des Blicks, die Menge der Kenntnisse,<lb/> die Mannigfaltigkeit der Töne, kurz die Fülle der Anregungen, die jene<lb/> Alten, die „Lehrer" auszeichnet, und der Dichter gehört in der That zu<lb/> denen, die etwas gelernt haben. Da sind Sprüche, die beinahe an Goethe<lb/> und Rückert, unsre Meister in dem Fache, heranreichen, ferner Gelegenheits¬<lb/> gedichte an bedeutende Männer im scherzenden Lehrton. Beide Gattungen<lb/> lieben ja auch die Modernen, aber wie fallen sie ab mit ihren Leistungen gegen<lb/> die Menge, die Paul Heyse hier verschwenderisch in allen Tonarten vor uns<lb/> hinschüttet! Den Gegnern des Klassizismus sei sodann „Die Mutter des<lb/> Siegers" empfohlen, scheinbar ein altes, fernes Lied, aber ergreifend und neu,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0323]
Zur neuesten Litteraturgeschichte
der andre für jenen Teil? Sie hatten eine zusammenhängende Weltanschauung,
und diese beruhte zuletzt auf einer großen Summe erworbner Kenntnisse, die
sie zugleich befähigte, in den Fächern des Lebens auch etwas ganz bestimmtes
zu leisten. Was sie lehrten, das kannten sie auch. Wie leicht und windig,
alltäglich und zufällig erscheint dagegen alles, was man als nach 1870 ent-
standne schöne Litteratur bezeichnet! Könnte man sich diese unsicher hin- und
herfahrenden Dichter, die meistens noch mit der Grammatik im Streit liegen,
auch wohl als Lehrer ihrer Zeitgenossen denken? Höchstens doch als ihre
Unterhalter oder Spaßmacher. Greifen wir noch aus den kürzlich Verstorbnen
zwei ganz verschiedne Erscheinungen zufällig heraus, einen Dichter und einen
Prosaiker, Rückert und Freytag: welch eine Weite des Gesichtskreises, was
für ein Umfang von Kenntnissen tritt uns bei ihnen entgegen! Einem sorg¬
fältigen Beobachter muß an Freytags Journalisten in höherm Maße die Be¬
obachtung und das fein Studirte auffallen, als die etwaige Genialität, die
Erfindung; das Stück ist dem Dichter wahrlich nicht in den Schoß gefallen.
Wir sehen und lesen es nun bald seit fünfzig Jahren, und es wirkt mit der¬
selben Frische wie am ersten Tage. Von welchem der seit 1870 entstandnen
Dramen ließe sich das erwarten?
Oder denken wir an einen der letzten, die uns noch von den ältern
Dichtern geblieben sind. Paul Heyse, den seine jüngsten Fachgenossen nur
noch als Formkünstler anzusehen Pflegen, hat allerdings vieles geschrieben, was
uus kalt läßt, und was nicht weiter leben wird, weil uns sein Inhalt nichts
angeht. Das gilt namentlich von manchen italienischen Stoffen; wissen¬
schaftlich genommen, könnten sie uns zum Teil vielleicht noch beschäftigen,
poetisch nicht. Nun nehme man aber den kürzlich erschienenen Band: Neue
Gedichte und Jugendlieder (Berlin, W. Hertz) in die Hand. Darin sagt
der bald siebzigjährige:
Darin haben wir wieder die Weite des Blicks, die Menge der Kenntnisse,
die Mannigfaltigkeit der Töne, kurz die Fülle der Anregungen, die jene
Alten, die „Lehrer" auszeichnet, und der Dichter gehört in der That zu
denen, die etwas gelernt haben. Da sind Sprüche, die beinahe an Goethe
und Rückert, unsre Meister in dem Fache, heranreichen, ferner Gelegenheits¬
gedichte an bedeutende Männer im scherzenden Lehrton. Beide Gattungen
lieben ja auch die Modernen, aber wie fallen sie ab mit ihren Leistungen gegen
die Menge, die Paul Heyse hier verschwenderisch in allen Tonarten vor uns
hinschüttet! Den Gegnern des Klassizismus sei sodann „Die Mutter des
Siegers" empfohlen, scheinbar ein altes, fernes Lied, aber ergreifend und neu,
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