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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuesten Litteraturgeschichte

alle geistig überragen, haben ein ähnliches Werk zu schaffen vermocht," und
die "Weber" würden ebenso lange gemeinen werden, wie Moliöres Tartüffe und
Beaumarchais Figaros Hochzeit oder Schillers Kabale und Liebe -- freilich
nicht als Kunstwerk, sondern als Zeugnis der Gesellschaft ihrer Zeit! Das
wären zunächst mindestens hundert Jahre, und wenn wir das für undenkbar
erklären, was will man dagegen anführen? Aber abgesehen davon, das eigne
Verdienst des Dichters an den "Webern" wird bekanntlich durch gleichzeitige
Aufzeichnungen, denen er manchmal fast wörtlich folgen konnte, eingeschränkt,
die Erfindung ist gleich Null, die geistige That besteht eigentlich nur in dem
Entschluß, diesen Rohstoff für die Bühne herzurichten, und wenn man dazu
erwägt, daß der Aufwand an Kunstmitteln im Sinne der ältern Anschauung
zugestandnermaßen gering ist, so bleibt schwerlich von dem Ganzen genug übrig,
um daraus ein Postament für einen Dichter von dieser Bedeutung zu bauen.
Wir kennen zwar Menschen, die die Weber für Hauptmanns interessantestes
Stück erklärt haben, aber uns sind noch weit mehr bekannt, die es für ein
absolut widerwärtiges halten, und wir selbst sind nicht sehr weit von dieser
Auffassung entfernt. -- Nun noch ein Wort über die Diebskomödie "Biberpelz,"
die ziemlich lau aufgenommen worden ist, wie Bartels hervorhebt. Er selbst
aber findet darin einen neuen wertvollen Ansatz zu einem Lustspiel echt
deutschen Stils, der in der Litteraturgeschichte wahrscheinlich stets mit seinem
großen Vorbild, Kleists Zerbrochnem Krug, zusammen genannt werden werde.
Andre denken anders, z. B. Grotthuß: "ich überlasse ihn den Motten der
Zeit, die von dem abgelegten Bühnenbekleidungsstücke kaum viel übrig lassen
werden."

Nach den Ausstellungen in? einzelnen überraschen uns bei Bartels oft die
allgemeinen Werturteile, und am wenigsten können wir uns in das Haupt¬
ergebnis finden, daß der fünfunddreißigjährige Hauptmann seine Höhe über¬
schritten habe und zugleich unser bedeutendster lebender Dichter sein soll.
Sollen wir das erste glauben, so verstehen wir das letzte nicht, anch wenn
wir uns auf das Sprichwort zurückziehen, daß unter Blinden der Einäugige
König ist- Halten wir aber vielmehr den Dichter für einen Anfänger und
seine Dramen für sehr verschiedenartige Proben eines Talents, das beobachten
kann und auch zu der Sprache ein Verhältnis zu finden weiß: so kommt uns
auf die Frage, um wie viel dieser Dichterjttngling schon seine Genossen etwa
überragen möge, nicht viel an, und zum Vergleichen mit den der Geschichte
ungehörigen Größen langt es bei ihm noch nicht. So viel interessantes dem¬
nach das Bartelssche Buch enthält, so wenig paßt doch vielfach der Inhalt
zu dem wirklichen Hauptmann. Vielleicht wird dieser aber nun zu der hohen
wissenschaftlichen Einschätzung die Leistungen nachliefern.

Wie kommt es doch, daß unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts
uns immer noch zuerst als Lehrer ihres Volks erscheinen, der eine für diesen


Zur neuesten Litteraturgeschichte

alle geistig überragen, haben ein ähnliches Werk zu schaffen vermocht," und
die „Weber" würden ebenso lange gemeinen werden, wie Moliöres Tartüffe und
Beaumarchais Figaros Hochzeit oder Schillers Kabale und Liebe — freilich
nicht als Kunstwerk, sondern als Zeugnis der Gesellschaft ihrer Zeit! Das
wären zunächst mindestens hundert Jahre, und wenn wir das für undenkbar
erklären, was will man dagegen anführen? Aber abgesehen davon, das eigne
Verdienst des Dichters an den „Webern" wird bekanntlich durch gleichzeitige
Aufzeichnungen, denen er manchmal fast wörtlich folgen konnte, eingeschränkt,
die Erfindung ist gleich Null, die geistige That besteht eigentlich nur in dem
Entschluß, diesen Rohstoff für die Bühne herzurichten, und wenn man dazu
erwägt, daß der Aufwand an Kunstmitteln im Sinne der ältern Anschauung
zugestandnermaßen gering ist, so bleibt schwerlich von dem Ganzen genug übrig,
um daraus ein Postament für einen Dichter von dieser Bedeutung zu bauen.
Wir kennen zwar Menschen, die die Weber für Hauptmanns interessantestes
Stück erklärt haben, aber uns sind noch weit mehr bekannt, die es für ein
absolut widerwärtiges halten, und wir selbst sind nicht sehr weit von dieser
Auffassung entfernt. — Nun noch ein Wort über die Diebskomödie „Biberpelz,"
die ziemlich lau aufgenommen worden ist, wie Bartels hervorhebt. Er selbst
aber findet darin einen neuen wertvollen Ansatz zu einem Lustspiel echt
deutschen Stils, der in der Litteraturgeschichte wahrscheinlich stets mit seinem
großen Vorbild, Kleists Zerbrochnem Krug, zusammen genannt werden werde.
Andre denken anders, z. B. Grotthuß: „ich überlasse ihn den Motten der
Zeit, die von dem abgelegten Bühnenbekleidungsstücke kaum viel übrig lassen
werden."

Nach den Ausstellungen in? einzelnen überraschen uns bei Bartels oft die
allgemeinen Werturteile, und am wenigsten können wir uns in das Haupt¬
ergebnis finden, daß der fünfunddreißigjährige Hauptmann seine Höhe über¬
schritten habe und zugleich unser bedeutendster lebender Dichter sein soll.
Sollen wir das erste glauben, so verstehen wir das letzte nicht, anch wenn
wir uns auf das Sprichwort zurückziehen, daß unter Blinden der Einäugige
König ist- Halten wir aber vielmehr den Dichter für einen Anfänger und
seine Dramen für sehr verschiedenartige Proben eines Talents, das beobachten
kann und auch zu der Sprache ein Verhältnis zu finden weiß: so kommt uns
auf die Frage, um wie viel dieser Dichterjttngling schon seine Genossen etwa
überragen möge, nicht viel an, und zum Vergleichen mit den der Geschichte
ungehörigen Größen langt es bei ihm noch nicht. So viel interessantes dem¬
nach das Bartelssche Buch enthält, so wenig paßt doch vielfach der Inhalt
zu dem wirklichen Hauptmann. Vielleicht wird dieser aber nun zu der hohen
wissenschaftlichen Einschätzung die Leistungen nachliefern.

Wie kommt es doch, daß unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts
uns immer noch zuerst als Lehrer ihres Volks erscheinen, der eine für diesen


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[0322] Zur neuesten Litteraturgeschichte alle geistig überragen, haben ein ähnliches Werk zu schaffen vermocht," und die „Weber" würden ebenso lange gemeinen werden, wie Moliöres Tartüffe und Beaumarchais Figaros Hochzeit oder Schillers Kabale und Liebe — freilich nicht als Kunstwerk, sondern als Zeugnis der Gesellschaft ihrer Zeit! Das wären zunächst mindestens hundert Jahre, und wenn wir das für undenkbar erklären, was will man dagegen anführen? Aber abgesehen davon, das eigne Verdienst des Dichters an den „Webern" wird bekanntlich durch gleichzeitige Aufzeichnungen, denen er manchmal fast wörtlich folgen konnte, eingeschränkt, die Erfindung ist gleich Null, die geistige That besteht eigentlich nur in dem Entschluß, diesen Rohstoff für die Bühne herzurichten, und wenn man dazu erwägt, daß der Aufwand an Kunstmitteln im Sinne der ältern Anschauung zugestandnermaßen gering ist, so bleibt schwerlich von dem Ganzen genug übrig, um daraus ein Postament für einen Dichter von dieser Bedeutung zu bauen. Wir kennen zwar Menschen, die die Weber für Hauptmanns interessantestes Stück erklärt haben, aber uns sind noch weit mehr bekannt, die es für ein absolut widerwärtiges halten, und wir selbst sind nicht sehr weit von dieser Auffassung entfernt. — Nun noch ein Wort über die Diebskomödie „Biberpelz," die ziemlich lau aufgenommen worden ist, wie Bartels hervorhebt. Er selbst aber findet darin einen neuen wertvollen Ansatz zu einem Lustspiel echt deutschen Stils, der in der Litteraturgeschichte wahrscheinlich stets mit seinem großen Vorbild, Kleists Zerbrochnem Krug, zusammen genannt werden werde. Andre denken anders, z. B. Grotthuß: „ich überlasse ihn den Motten der Zeit, die von dem abgelegten Bühnenbekleidungsstücke kaum viel übrig lassen werden." Nach den Ausstellungen in? einzelnen überraschen uns bei Bartels oft die allgemeinen Werturteile, und am wenigsten können wir uns in das Haupt¬ ergebnis finden, daß der fünfunddreißigjährige Hauptmann seine Höhe über¬ schritten habe und zugleich unser bedeutendster lebender Dichter sein soll. Sollen wir das erste glauben, so verstehen wir das letzte nicht, anch wenn wir uns auf das Sprichwort zurückziehen, daß unter Blinden der Einäugige König ist- Halten wir aber vielmehr den Dichter für einen Anfänger und seine Dramen für sehr verschiedenartige Proben eines Talents, das beobachten kann und auch zu der Sprache ein Verhältnis zu finden weiß: so kommt uns auf die Frage, um wie viel dieser Dichterjttngling schon seine Genossen etwa überragen möge, nicht viel an, und zum Vergleichen mit den der Geschichte ungehörigen Größen langt es bei ihm noch nicht. So viel interessantes dem¬ nach das Bartelssche Buch enthält, so wenig paßt doch vielfach der Inhalt zu dem wirklichen Hauptmann. Vielleicht wird dieser aber nun zu der hohen wissenschaftlichen Einschätzung die Leistungen nachliefern. Wie kommt es doch, daß unsre großen Dichter des vorigen Jahrhunderts uns immer noch zuerst als Lehrer ihres Volks erscheinen, der eine für diesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/322>, abgerufen am 09.01.2025.