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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuesten Litteraturgeschichte

Litteratur stößt man auf Anregungen, denen der Dichter, bewußt oder unbewußt,
folgen konnte. Eine Weltdichtung, die man lücherlichcrweise mit dem Faust
vergleiche" wollte (und die auch einige Flittern daher entlehnt hat), muß mehr
sein, als ein Niederschlag der verbreiteten poetische" Kultur! Mit der Ver-
sunknen Glocke sei der Dichter auf der schiefen Ebene, ans die er sich mit dem
Hannele begeben habe, noch weiter hinabgerollt zu der Konvention und Un¬
natur. "Meiner Empfindung nach will Hauptmann anch hier etwas, was er
im Grunde nicht kann, handelt es sich hier um eine subjektiv recht wohl er¬
klärliche, auch mit großer Kunst in Szene gesetzte, darum aber nicht minder
verderbliche künstlerische Täuschung, Selbsttäuschung und Täuschung des
Publikums zugleich, die als solche zu kennzeichnen die Aufgabe aller derer ist,
die es mit Hauptmann selbst und der deutschen Litteratur ernst und gut
meinen."

Also was "kann" Hauptmann? Die Frage muß uns zu seiner "Höhe"
führen, wenn diese nicht durch die zwei Märchendramen bezeichnet wird.
Bartels nennt ihn schon auf seiner ersten Stufe einen "Meister, der sein
Talent so in der Gemalt hat, daß er sich kaum noch vergreifen kann," nämlich
in Bezug auf seine ersten drei Dramen (Vor Sonnenaufgang, Das Friedens¬
fest, Einsame Menschen), die er trotzdem ohne Nachsicht sür ihre Schwächen
abschützt. Er findet auch namentlich mit Rücksicht auf die Gattungsbezeichnung
"Sturm und Drang" beim Vergleichen Vorteile auf feiten der Alten vor
hundert Jahren (Lenz), und was den Hauptunterschied der beiden Perioden
betrifft, daß bis jetzt uoch kein zweiter Goethe gekommen ist -- ja, das Pflegt
man in unsrer neuesten Litteraturhistorie nicht ganz so zudringlich und konkret
auszudrücken.

Bartels findet, daß Hauptmanns Meisterschaft in der naturalistischen
Schilderung liege, und sieht seine höchste Leistung in einer Reihe solcher
"naturalistischen" Dramen, der zweiten im ganzen, die wieder aus drei Stücken
besteht: Die Weber, Kollege Crampton, Der Biberpelz. Diese Werke fallen in
des Dichters neunundzwanzigstes bis zweiunddreißigstes Jahr. "Nicht alle
Dichter, aber die meisten pflegen in diesen Jahren ihr Bestes zu geben, und
ich bin nach dem, was später eingetreten ist, der Überzeugung, daß auch
Hauptmann dies gethan hat, ohne damit freilich die Unmöglichkeit einer zweiten
Höhe behaupten zu wollen." Aber eigentlich doch wohl, denn dies ist doch
schon die Litotes der Resignation! Wir müssen also von der Voraussetzung
aus urteilen, daß dieser Dichter mit zweiunddreißig Jahren "fertig" ist, wenn
er auch mehr als doppelt so lange leben sollte. Bartels würdigt die Vorzüge
der drei Dramen eingehend, am höchsten stellt er die "Weber," das Drama
des Milieu, des Nebeneinander ohne Hauptindividuen, und dadurch sei Haupt¬
mann unter die Weltdichter emporgewachsen. "Weder Ibsen noch Zola, weder
Tolstoh noch Dostojewski), soweit sie nach meiner Überzeugung Hauptmann


Zur neuesten Litteraturgeschichte

Litteratur stößt man auf Anregungen, denen der Dichter, bewußt oder unbewußt,
folgen konnte. Eine Weltdichtung, die man lücherlichcrweise mit dem Faust
vergleiche» wollte (und die auch einige Flittern daher entlehnt hat), muß mehr
sein, als ein Niederschlag der verbreiteten poetische» Kultur! Mit der Ver-
sunknen Glocke sei der Dichter auf der schiefen Ebene, ans die er sich mit dem
Hannele begeben habe, noch weiter hinabgerollt zu der Konvention und Un¬
natur. „Meiner Empfindung nach will Hauptmann anch hier etwas, was er
im Grunde nicht kann, handelt es sich hier um eine subjektiv recht wohl er¬
klärliche, auch mit großer Kunst in Szene gesetzte, darum aber nicht minder
verderbliche künstlerische Täuschung, Selbsttäuschung und Täuschung des
Publikums zugleich, die als solche zu kennzeichnen die Aufgabe aller derer ist,
die es mit Hauptmann selbst und der deutschen Litteratur ernst und gut
meinen."

Also was „kann" Hauptmann? Die Frage muß uns zu seiner „Höhe"
führen, wenn diese nicht durch die zwei Märchendramen bezeichnet wird.
Bartels nennt ihn schon auf seiner ersten Stufe einen „Meister, der sein
Talent so in der Gemalt hat, daß er sich kaum noch vergreifen kann," nämlich
in Bezug auf seine ersten drei Dramen (Vor Sonnenaufgang, Das Friedens¬
fest, Einsame Menschen), die er trotzdem ohne Nachsicht sür ihre Schwächen
abschützt. Er findet auch namentlich mit Rücksicht auf die Gattungsbezeichnung
„Sturm und Drang" beim Vergleichen Vorteile auf feiten der Alten vor
hundert Jahren (Lenz), und was den Hauptunterschied der beiden Perioden
betrifft, daß bis jetzt uoch kein zweiter Goethe gekommen ist — ja, das Pflegt
man in unsrer neuesten Litteraturhistorie nicht ganz so zudringlich und konkret
auszudrücken.

Bartels findet, daß Hauptmanns Meisterschaft in der naturalistischen
Schilderung liege, und sieht seine höchste Leistung in einer Reihe solcher
„naturalistischen" Dramen, der zweiten im ganzen, die wieder aus drei Stücken
besteht: Die Weber, Kollege Crampton, Der Biberpelz. Diese Werke fallen in
des Dichters neunundzwanzigstes bis zweiunddreißigstes Jahr. „Nicht alle
Dichter, aber die meisten pflegen in diesen Jahren ihr Bestes zu geben, und
ich bin nach dem, was später eingetreten ist, der Überzeugung, daß auch
Hauptmann dies gethan hat, ohne damit freilich die Unmöglichkeit einer zweiten
Höhe behaupten zu wollen." Aber eigentlich doch wohl, denn dies ist doch
schon die Litotes der Resignation! Wir müssen also von der Voraussetzung
aus urteilen, daß dieser Dichter mit zweiunddreißig Jahren „fertig" ist, wenn
er auch mehr als doppelt so lange leben sollte. Bartels würdigt die Vorzüge
der drei Dramen eingehend, am höchsten stellt er die „Weber," das Drama
des Milieu, des Nebeneinander ohne Hauptindividuen, und dadurch sei Haupt¬
mann unter die Weltdichter emporgewachsen. „Weder Ibsen noch Zola, weder
Tolstoh noch Dostojewski), soweit sie nach meiner Überzeugung Hauptmann


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[0321] Zur neuesten Litteraturgeschichte Litteratur stößt man auf Anregungen, denen der Dichter, bewußt oder unbewußt, folgen konnte. Eine Weltdichtung, die man lücherlichcrweise mit dem Faust vergleiche» wollte (und die auch einige Flittern daher entlehnt hat), muß mehr sein, als ein Niederschlag der verbreiteten poetische» Kultur! Mit der Ver- sunknen Glocke sei der Dichter auf der schiefen Ebene, ans die er sich mit dem Hannele begeben habe, noch weiter hinabgerollt zu der Konvention und Un¬ natur. „Meiner Empfindung nach will Hauptmann anch hier etwas, was er im Grunde nicht kann, handelt es sich hier um eine subjektiv recht wohl er¬ klärliche, auch mit großer Kunst in Szene gesetzte, darum aber nicht minder verderbliche künstlerische Täuschung, Selbsttäuschung und Täuschung des Publikums zugleich, die als solche zu kennzeichnen die Aufgabe aller derer ist, die es mit Hauptmann selbst und der deutschen Litteratur ernst und gut meinen." Also was „kann" Hauptmann? Die Frage muß uns zu seiner „Höhe" führen, wenn diese nicht durch die zwei Märchendramen bezeichnet wird. Bartels nennt ihn schon auf seiner ersten Stufe einen „Meister, der sein Talent so in der Gemalt hat, daß er sich kaum noch vergreifen kann," nämlich in Bezug auf seine ersten drei Dramen (Vor Sonnenaufgang, Das Friedens¬ fest, Einsame Menschen), die er trotzdem ohne Nachsicht sür ihre Schwächen abschützt. Er findet auch namentlich mit Rücksicht auf die Gattungsbezeichnung „Sturm und Drang" beim Vergleichen Vorteile auf feiten der Alten vor hundert Jahren (Lenz), und was den Hauptunterschied der beiden Perioden betrifft, daß bis jetzt uoch kein zweiter Goethe gekommen ist — ja, das Pflegt man in unsrer neuesten Litteraturhistorie nicht ganz so zudringlich und konkret auszudrücken. Bartels findet, daß Hauptmanns Meisterschaft in der naturalistischen Schilderung liege, und sieht seine höchste Leistung in einer Reihe solcher „naturalistischen" Dramen, der zweiten im ganzen, die wieder aus drei Stücken besteht: Die Weber, Kollege Crampton, Der Biberpelz. Diese Werke fallen in des Dichters neunundzwanzigstes bis zweiunddreißigstes Jahr. „Nicht alle Dichter, aber die meisten pflegen in diesen Jahren ihr Bestes zu geben, und ich bin nach dem, was später eingetreten ist, der Überzeugung, daß auch Hauptmann dies gethan hat, ohne damit freilich die Unmöglichkeit einer zweiten Höhe behaupten zu wollen." Aber eigentlich doch wohl, denn dies ist doch schon die Litotes der Resignation! Wir müssen also von der Voraussetzung aus urteilen, daß dieser Dichter mit zweiunddreißig Jahren „fertig" ist, wenn er auch mehr als doppelt so lange leben sollte. Bartels würdigt die Vorzüge der drei Dramen eingehend, am höchsten stellt er die „Weber," das Drama des Milieu, des Nebeneinander ohne Hauptindividuen, und dadurch sei Haupt¬ mann unter die Weltdichter emporgewachsen. „Weder Ibsen noch Zola, weder Tolstoh noch Dostojewski), soweit sie nach meiner Überzeugung Hauptmann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/321>, abgerufen am 09.01.2025.