Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand lose Gewöhnung an gewisse künstlerische Stileigenschaften giebt, mit der man Wenden wir dieses in kritischen Artikeln und Zeitungsfcuillctous bis zum vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand lose Gewöhnung an gewisse künstlerische Stileigenschaften giebt, mit der man Wenden wir dieses in kritischen Artikeln und Zeitungsfcuillctous bis zum <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226933"/> <fw type="header" place="top"> vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand</fw><lb/> <p xml:id="ID_53" prev="#ID_52"> lose Gewöhnung an gewisse künstlerische Stileigenschaften giebt, mit der man<lb/> freilich keinen 5>und vom Ofen locken kann. Sie machen geltend, daß die fort¬<lb/> schreitende Entwicklung der Kunst, die mit der fortschreitenden Entwicklung<lb/> des Lebens in innigster Wechselwirkung stehe, jeder Verkümmerung oder Ein¬<lb/> schränkung durch die Enge eines ausgeprägten Geschmacks widerstrebe. Sie<lb/> leugnen, daß es einen der Natur selbst unmittelbar entstammenden Wert¬<lb/> messer poetischer und künstlerischer Schöpfungen gebe, der unter allen Wand¬<lb/> lungen der Kultur, der Bildung und der Mode in Kraft bleibe, und leiten<lb/> aus der beständigen Veränderung der Sitten, der Zustände und der geistigen<lb/> Richtungen eine beständige, lediglich an das Fortschreiten der Zeit gebundne<lb/> Vervollkommnung aller menschlichen, also auch der künstlerischen Leistungen<lb/> ab. Geschmack schließt uach ihrer Annahme eine Gewöhnung an gewisse Über¬<lb/> lieferungen in sich, hindert also das, worauf es ihnen vor allem ankommt: das<lb/> Neueste auch jederzeit für das Beste zu erkennen. Alle vermeinten Unterschiede<lb/> zwischen gehaltvoll und hohl, zwischen tief und flach lasten sich nach ihrer<lb/> Meinung auf den Unterschied zwischen veraltet und aktuell zurückführen, an<lb/> Stelle des Geschmacks hat der Instinkt für das unmittelbar Wirksame zu treten,<lb/> das, wie es auch geartet sei, jedenfalls in irgend einer Richtung das Vergangne<lb/> übertreffen müsse. Eine andre Gruppe zeitgemäßer Ästhetiker will zwar ein¬<lb/> räumen, daß es Unterschiede auch andrer Art als die zwischen alt und neu<lb/> gebe, und daß solche Unterschiede empfunden und gesehen werden könnten, be¬<lb/> hauptet jedoch, daß dazu ein geistiges, weit über die Geschmacksbildung hinaus¬<lb/> ragendes Vermögen gehöre, ein Vermögen, das mit dem Gefühl für das tiefere<lb/> innere Bedürfnis jeder einzelnen Periode zusammenfalle.</p><lb/> <p xml:id="ID_54" next="#ID_55"> Wenden wir dieses in kritischen Artikeln und Zeitungsfcuillctous bis zum<lb/> Ekel breitgetretne Gerede auf einen bestimmten in der Vergangenheit liegenden<lb/> Fall an, fo stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Die Bekenner der Über¬<lb/> zeugung, daß das Neueste jederzeit das Beste sei. hätten im Jahre 1798, ein<lb/> Vierteljahrhundert nach Goethes „Werther," das Meisterwerk der siebziger Jahre,<lb/> für eine vollkommen veraltete und abgestcmdne Schöpfung erklären und aus<lb/> der Gewißheit, daß Vulpius ..Rinaldo Rinaldini" „gedruckt in diesem Jahr"<lb/> war, den romantischen Rauberroman für einen unendlichen Fortschritt über die<lb/> sentimentale Geschichte betrachten, somit den jüngern der beide» Schwager<lb/> Goethe und Vulpius als den vortrefflichem Schriftsteller rühmen müssen. Sie<lb/> wären, da in demselben Jahre auch „Franz Sternbalds Wanderungen" von<lb/> Ludwig Tieck erschienen, genötigt gewesen, zuzugestehen, daß das letztgenannte<lb/> Buch sich zwar wesentlich vom „Rinaldo Rinaldini" unterscheide, aber kein<lb/> höheres Recht habe, sondern eben nur von einer andern Strömung der Zeit<lb/> und des Tages getragen werde. Die Anhänger der Lehre, daß zwar Unter¬<lb/> schiede vorhanden seien, aber immer nur das Gegenwärtige mit dem Gegen¬<lb/> wärtigen verglichen werden dürfe, würden zugestanden haben, daß der „Stern-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0031]
vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand
lose Gewöhnung an gewisse künstlerische Stileigenschaften giebt, mit der man
freilich keinen 5>und vom Ofen locken kann. Sie machen geltend, daß die fort¬
schreitende Entwicklung der Kunst, die mit der fortschreitenden Entwicklung
des Lebens in innigster Wechselwirkung stehe, jeder Verkümmerung oder Ein¬
schränkung durch die Enge eines ausgeprägten Geschmacks widerstrebe. Sie
leugnen, daß es einen der Natur selbst unmittelbar entstammenden Wert¬
messer poetischer und künstlerischer Schöpfungen gebe, der unter allen Wand¬
lungen der Kultur, der Bildung und der Mode in Kraft bleibe, und leiten
aus der beständigen Veränderung der Sitten, der Zustände und der geistigen
Richtungen eine beständige, lediglich an das Fortschreiten der Zeit gebundne
Vervollkommnung aller menschlichen, also auch der künstlerischen Leistungen
ab. Geschmack schließt uach ihrer Annahme eine Gewöhnung an gewisse Über¬
lieferungen in sich, hindert also das, worauf es ihnen vor allem ankommt: das
Neueste auch jederzeit für das Beste zu erkennen. Alle vermeinten Unterschiede
zwischen gehaltvoll und hohl, zwischen tief und flach lasten sich nach ihrer
Meinung auf den Unterschied zwischen veraltet und aktuell zurückführen, an
Stelle des Geschmacks hat der Instinkt für das unmittelbar Wirksame zu treten,
das, wie es auch geartet sei, jedenfalls in irgend einer Richtung das Vergangne
übertreffen müsse. Eine andre Gruppe zeitgemäßer Ästhetiker will zwar ein¬
räumen, daß es Unterschiede auch andrer Art als die zwischen alt und neu
gebe, und daß solche Unterschiede empfunden und gesehen werden könnten, be¬
hauptet jedoch, daß dazu ein geistiges, weit über die Geschmacksbildung hinaus¬
ragendes Vermögen gehöre, ein Vermögen, das mit dem Gefühl für das tiefere
innere Bedürfnis jeder einzelnen Periode zusammenfalle.
Wenden wir dieses in kritischen Artikeln und Zeitungsfcuillctous bis zum
Ekel breitgetretne Gerede auf einen bestimmten in der Vergangenheit liegenden
Fall an, fo stellt sich die Sache folgendermaßen dar. Die Bekenner der Über¬
zeugung, daß das Neueste jederzeit das Beste sei. hätten im Jahre 1798, ein
Vierteljahrhundert nach Goethes „Werther," das Meisterwerk der siebziger Jahre,
für eine vollkommen veraltete und abgestcmdne Schöpfung erklären und aus
der Gewißheit, daß Vulpius ..Rinaldo Rinaldini" „gedruckt in diesem Jahr"
war, den romantischen Rauberroman für einen unendlichen Fortschritt über die
sentimentale Geschichte betrachten, somit den jüngern der beide» Schwager
Goethe und Vulpius als den vortrefflichem Schriftsteller rühmen müssen. Sie
wären, da in demselben Jahre auch „Franz Sternbalds Wanderungen" von
Ludwig Tieck erschienen, genötigt gewesen, zuzugestehen, daß das letztgenannte
Buch sich zwar wesentlich vom „Rinaldo Rinaldini" unterscheide, aber kein
höheres Recht habe, sondern eben nur von einer andern Strömung der Zeit
und des Tages getragen werde. Die Anhänger der Lehre, daß zwar Unter¬
schiede vorhanden seien, aber immer nur das Gegenwärtige mit dem Gegen¬
wärtigen verglichen werden dürfe, würden zugestanden haben, daß der „Stern-
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