Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand daß die Mangelhaftigkeit und das Schwankende des Wortgebrauchs in unsrer Den Hauptbeweis für das angebliche Unheil, was alle Geschmacksbildung vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand daß die Mangelhaftigkeit und das Schwankende des Wortgebrauchs in unsrer Den Hauptbeweis für das angebliche Unheil, was alle Geschmacksbildung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226932"/> <fw type="header" place="top"> vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand</fw><lb/> <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50"> daß die Mangelhaftigkeit und das Schwankende des Wortgebrauchs in unsrer<lb/> ästhetischen Sprache mit dem Begriff des guten Geschmacks bald dürre Schul¬<lb/> meisteret, bald eine ganz äußerliche Sauberkeitsforderung verbunden hat, die<lb/> beide nichts fördern. Und endlich räumen wir ein, daß es eine Abart auch<lb/> des wahren guten Geschmacks — das heißt der Fähigkeit, zwischen lebensvollen<lb/> und hohlen, zwischen meisterhaften und stümperhaften Leistungen zu unter¬<lb/> scheiden — giebt, die nur innerhalb eines bestimmten Kreises wirkt und sich<lb/> gegenüber neuen Lebens- und neuen Kunstregungen unzulänglich zeigt. Wird<lb/> jedoch, wie das die lärmende, nach allen Seiten hin zerstörende und auflösende,<lb/> nirgends im Interesse der Kunst, sondern höchstens zu Nutz und Frommen<lb/> einzelner Künstlerkliquen und revolutionärer Talente arbeitende modische Kritik<lb/> vielfach thut, aus diesen Vordersätzen die Folgerung gezogen, aller gute<lb/> Geschmack überhaupt sei nutzlos, ja hemmend, so haben wir wieder die ampu-<lb/> tirten Beine des Mannes aus Laputa. Natürlich ist das bezeichnete Unter¬<lb/> scheidungsvermögen, auf das im Grunde aller gute Geschmack hinausläuft,<lb/> und dessen Mangel bei allem schlechten Geschmack bemerkbar wird, nur die<lb/> Vorbedingung und der erste Anfang aller tiefern Kunstempfindung und Kunst¬<lb/> einsicht, aber gerade so unentbehrlich wie die Glieder, die man selbst dann<lb/> noch brauchen wird, wenn das Fliegen Gemeingut geworden sein wird. Sind-<lb/> die stärksten und feinsten Eindrücke dichterischer und künstlerischer Schöpfungen<lb/> an die Vertiefung in die Absichten und Ausführungen des Dichters oder<lb/> Künstlers gebunden, so kann doch diese Vertiefung nicht schlechthin für jede<lb/> Hervorbringung gefordert werden. Es muß eine Fähigkeit geben, die den<lb/> kunstgenießenden Menschen darüber ins Klare setzt, ob es künstlerische Leistungen<lb/> wert sind oder nicht, sich in sie zu vertiefen. Kein Zweifel, daß diese Fähigkeit<lb/> bei zahllosen Menschen schlecht ausgebildet ist oder falsch und flüchtig an¬<lb/> gewandt wird. Dennoch ist sie vorhanden, muß vorhanden sein und wird<lb/> ihrem Besitzer zwar niemals den innersten Kern und das feinste Geäder eines<lb/> Kunstwerks erschließen, ihm aber ersparen, solchen Kern und lebenerfüllte Adern<lb/> in hohlen Machwerken und leblosen Fratzen zu suchen. Ob man diese Fähig¬<lb/> keit, die angeboren oder durch Bildung erworben oder aus der Wechselwirkung<lb/> ursprünglichen Gefühls und künstlerischer Erfahrungen hervorgegangen sein<lb/> kann, anders nennen will als Geschmack, wäre am Ende gleichgiltig. Doch<lb/> sowie man ihre Wertlosigkeit zu erweisen versucht und aus der gelegentlichen,<lb/> immer nur relativen Unsicherheit ihrer Urteile ihre volle Entbehrlichkeit<lb/> folgert, haben wir nichts als eine Lebensäußerung der geistigen Anarchie vor<lb/> uns, die unbewußt und bewußt (meist aber bewußt zu leicht durchschaubaren<lb/> Zwecken) jede Unterscheidung als die zwischen alt und neu niederzuwerfen strebt.</p><lb/> <p xml:id="ID_52" next="#ID_53"> Den Hauptbeweis für das angebliche Unheil, was alle Geschmacksbildung<lb/> anrichte, führen die Heißsporne der Geschmacksverwilderung mit der soeben zu-<lb/> gestandnen Thatsache, daß es ein Zerrbild wirklichen Geschmacks, eine Urteils-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
vom guten Geschmack und vom gesunden Menschenverstand
daß die Mangelhaftigkeit und das Schwankende des Wortgebrauchs in unsrer
ästhetischen Sprache mit dem Begriff des guten Geschmacks bald dürre Schul¬
meisteret, bald eine ganz äußerliche Sauberkeitsforderung verbunden hat, die
beide nichts fördern. Und endlich räumen wir ein, daß es eine Abart auch
des wahren guten Geschmacks — das heißt der Fähigkeit, zwischen lebensvollen
und hohlen, zwischen meisterhaften und stümperhaften Leistungen zu unter¬
scheiden — giebt, die nur innerhalb eines bestimmten Kreises wirkt und sich
gegenüber neuen Lebens- und neuen Kunstregungen unzulänglich zeigt. Wird
jedoch, wie das die lärmende, nach allen Seiten hin zerstörende und auflösende,
nirgends im Interesse der Kunst, sondern höchstens zu Nutz und Frommen
einzelner Künstlerkliquen und revolutionärer Talente arbeitende modische Kritik
vielfach thut, aus diesen Vordersätzen die Folgerung gezogen, aller gute
Geschmack überhaupt sei nutzlos, ja hemmend, so haben wir wieder die ampu-
tirten Beine des Mannes aus Laputa. Natürlich ist das bezeichnete Unter¬
scheidungsvermögen, auf das im Grunde aller gute Geschmack hinausläuft,
und dessen Mangel bei allem schlechten Geschmack bemerkbar wird, nur die
Vorbedingung und der erste Anfang aller tiefern Kunstempfindung und Kunst¬
einsicht, aber gerade so unentbehrlich wie die Glieder, die man selbst dann
noch brauchen wird, wenn das Fliegen Gemeingut geworden sein wird. Sind-
die stärksten und feinsten Eindrücke dichterischer und künstlerischer Schöpfungen
an die Vertiefung in die Absichten und Ausführungen des Dichters oder
Künstlers gebunden, so kann doch diese Vertiefung nicht schlechthin für jede
Hervorbringung gefordert werden. Es muß eine Fähigkeit geben, die den
kunstgenießenden Menschen darüber ins Klare setzt, ob es künstlerische Leistungen
wert sind oder nicht, sich in sie zu vertiefen. Kein Zweifel, daß diese Fähigkeit
bei zahllosen Menschen schlecht ausgebildet ist oder falsch und flüchtig an¬
gewandt wird. Dennoch ist sie vorhanden, muß vorhanden sein und wird
ihrem Besitzer zwar niemals den innersten Kern und das feinste Geäder eines
Kunstwerks erschließen, ihm aber ersparen, solchen Kern und lebenerfüllte Adern
in hohlen Machwerken und leblosen Fratzen zu suchen. Ob man diese Fähig¬
keit, die angeboren oder durch Bildung erworben oder aus der Wechselwirkung
ursprünglichen Gefühls und künstlerischer Erfahrungen hervorgegangen sein
kann, anders nennen will als Geschmack, wäre am Ende gleichgiltig. Doch
sowie man ihre Wertlosigkeit zu erweisen versucht und aus der gelegentlichen,
immer nur relativen Unsicherheit ihrer Urteile ihre volle Entbehrlichkeit
folgert, haben wir nichts als eine Lebensäußerung der geistigen Anarchie vor
uns, die unbewußt und bewußt (meist aber bewußt zu leicht durchschaubaren
Zwecken) jede Unterscheidung als die zwischen alt und neu niederzuwerfen strebt.
Den Hauptbeweis für das angebliche Unheil, was alle Geschmacksbildung
anrichte, führen die Heißsporne der Geschmacksverwilderung mit der soeben zu-
gestandnen Thatsache, daß es ein Zerrbild wirklichen Geschmacks, eine Urteils-
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