Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.erschien, empfing ihn schallendes Hohngelächter, bitterer Tadel und bedauerndes Wie der Schüler nach dieser Offenbarung die Weisheit von Laputa an¬ Wenn einzelne wirkliche und ernsthaft zu nehmende Ästhetiker nachgewiesen erschien, empfing ihn schallendes Hohngelächter, bitterer Tadel und bedauerndes Wie der Schüler nach dieser Offenbarung die Weisheit von Laputa an¬ Wenn einzelne wirkliche und ernsthaft zu nehmende Ästhetiker nachgewiesen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226931"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_48" prev="#ID_47"> erschien, empfing ihn schallendes Hohngelächter, bitterer Tadel und bedauerndes<lb/> Achselzucken. Als er sich aber auf des Meisters Lehren berief und entrüstet<lb/> erklärte, daß immer und überall einer mit dem großen Neuen vorangehen<lb/> müsse, daß er sür seine Kühnheit Lob und nicht Spott erwartet habe, sagte<lb/> der Meister: Weißt du nicht, du Tropf, daß der Kluge die Probe ans seine<lb/> Behauptungen immer andern zuschiebt und den Erfolg abwartet? Und begreifst<lb/> du nicht, daß alle bindende und lösende Kraft der Welt nur in Worten liegt?<lb/> Der Mensch wird in Zukunft keiner Beine und Zähne bedürfen, gewiß und<lb/> wahrhaftig, denn wir werden die Dinger, auf denen er steht, und die Knochen,<lb/> mit denen er kaut, anders benennen.</p><lb/> <p xml:id="ID_49"> Wie der Schüler nach dieser Offenbarung die Weisheit von Laputa an¬<lb/> gesehen hat, ist uns leider nicht mit überliefert. Aber an die Geschichte erinnert<lb/> uns jeder Tag, und je öfter, leidenschaftlicher und bestimmter wir in den<lb/> Kunstkümpfen der Gegenwart die Versicherung vernehmen, daß der sogenannte<lb/> gute Geschmack und der gesunde Menschenverstand nicht nur unzulänglich,<lb/> sondern überflüssig, hemmend und hindernd sei, um so lebendiger sehen wir<lb/> den Schüler vor uns, der sich, weil doch geflogen werden soll, die Beine<lb/> amputiren läßt, und weil man sich des rohen Essens entwöhnen wird, die<lb/> Zähne ausziehen läßt, um so deutlicher den Meister, der recht wohl weiß,<lb/> daß. auch wenn die Flügel schon erfunden wären, der Mensch die Beine unter<lb/> andern auch zum Sitzen braucht, und daß, wenn selbst alle Nahrung in einem<lb/> Löffel Lebenselixier bestünde, die Zähne beim Sprechen nicht gut zu entbehren<lb/> sind. Das Verhältnis zwischen Meistern und Jüngern auf ästhetischem Gebiet<lb/> ist ungefähr dasselbe wie in unsrer Fabel: die erstern lehren mit großem Nach¬<lb/> druck Dinge, von denen sie wissen, daß sie falsch, irreführend und bestenfalls<lb/> die alten Einsichten sind, die, um des Scheins der Neuheit und eines geistigen<lb/> Fortschritts willen, einfach umgetauft wurden, die Jünger aber verkündigen<lb/> mit dem seit Jahrhunderten beliebten Geschrei, daß jetzt der Weisheit letzter<lb/> Schluß gewonnen worden sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_50" next="#ID_51"> Wenn einzelne wirkliche und ernsthaft zu nehmende Ästhetiker nachgewiesen<lb/> haben, daß das, was eine gewisse Durchschnittsbildung gewöhnlich den „guten<lb/> Geschmack" nennt, die schlechteste Bürgschaft für Erkenntnis und Beurteilung<lb/> neuer Kunst, neuer poetischer Schöpfungen sei, so hätten sie getrost das Bei¬<lb/> wort neu weglassen und sagen können: die schlechteste Bürgschaft für Kunst¬<lb/> genuß und Kuusteiusicht überhaupt. Daß die mühsame Einprägung der äußer¬<lb/> lichen Eigenschaften anerkannter Kunstwerke und der nachfolgende Vergleich<lb/> neuer Schöpfungen mit dem so gewonnenen Vorbilde, die Anlegung von Ma߬<lb/> stäben, die eklektisch aus einer Reihe vorhandner Werke konstruirt werden, und<lb/> der Gebrauch von rein negativen Regeln, kurz alles, was Goethe treffend und<lb/> erschöpfend „Geschmackspfäfflerwesen" nennt, klüglich unfruchtbar bleibt, ist<lb/> wenigstens keine neue Wahrheit. Ebenso kann ohne weiteres zugegeben werden,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
erschien, empfing ihn schallendes Hohngelächter, bitterer Tadel und bedauerndes
Achselzucken. Als er sich aber auf des Meisters Lehren berief und entrüstet
erklärte, daß immer und überall einer mit dem großen Neuen vorangehen
müsse, daß er sür seine Kühnheit Lob und nicht Spott erwartet habe, sagte
der Meister: Weißt du nicht, du Tropf, daß der Kluge die Probe ans seine
Behauptungen immer andern zuschiebt und den Erfolg abwartet? Und begreifst
du nicht, daß alle bindende und lösende Kraft der Welt nur in Worten liegt?
Der Mensch wird in Zukunft keiner Beine und Zähne bedürfen, gewiß und
wahrhaftig, denn wir werden die Dinger, auf denen er steht, und die Knochen,
mit denen er kaut, anders benennen.
Wie der Schüler nach dieser Offenbarung die Weisheit von Laputa an¬
gesehen hat, ist uns leider nicht mit überliefert. Aber an die Geschichte erinnert
uns jeder Tag, und je öfter, leidenschaftlicher und bestimmter wir in den
Kunstkümpfen der Gegenwart die Versicherung vernehmen, daß der sogenannte
gute Geschmack und der gesunde Menschenverstand nicht nur unzulänglich,
sondern überflüssig, hemmend und hindernd sei, um so lebendiger sehen wir
den Schüler vor uns, der sich, weil doch geflogen werden soll, die Beine
amputiren läßt, und weil man sich des rohen Essens entwöhnen wird, die
Zähne ausziehen läßt, um so deutlicher den Meister, der recht wohl weiß,
daß. auch wenn die Flügel schon erfunden wären, der Mensch die Beine unter
andern auch zum Sitzen braucht, und daß, wenn selbst alle Nahrung in einem
Löffel Lebenselixier bestünde, die Zähne beim Sprechen nicht gut zu entbehren
sind. Das Verhältnis zwischen Meistern und Jüngern auf ästhetischem Gebiet
ist ungefähr dasselbe wie in unsrer Fabel: die erstern lehren mit großem Nach¬
druck Dinge, von denen sie wissen, daß sie falsch, irreführend und bestenfalls
die alten Einsichten sind, die, um des Scheins der Neuheit und eines geistigen
Fortschritts willen, einfach umgetauft wurden, die Jünger aber verkündigen
mit dem seit Jahrhunderten beliebten Geschrei, daß jetzt der Weisheit letzter
Schluß gewonnen worden sei.
Wenn einzelne wirkliche und ernsthaft zu nehmende Ästhetiker nachgewiesen
haben, daß das, was eine gewisse Durchschnittsbildung gewöhnlich den „guten
Geschmack" nennt, die schlechteste Bürgschaft für Erkenntnis und Beurteilung
neuer Kunst, neuer poetischer Schöpfungen sei, so hätten sie getrost das Bei¬
wort neu weglassen und sagen können: die schlechteste Bürgschaft für Kunst¬
genuß und Kuusteiusicht überhaupt. Daß die mühsame Einprägung der äußer¬
lichen Eigenschaften anerkannter Kunstwerke und der nachfolgende Vergleich
neuer Schöpfungen mit dem so gewonnenen Vorbilde, die Anlegung von Ma߬
stäben, die eklektisch aus einer Reihe vorhandner Werke konstruirt werden, und
der Gebrauch von rein negativen Regeln, kurz alles, was Goethe treffend und
erschöpfend „Geschmackspfäfflerwesen" nennt, klüglich unfruchtbar bleibt, ist
wenigstens keine neue Wahrheit. Ebenso kann ohne weiteres zugegeben werden,
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