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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Huxley gegen Rousseau und Henry George

auf das, was er verdient. Die natürliche Rechtsgleichheit bedeutet nicht, daß
alle gleich viel Vermögen oder Einkommen oder dieselbe soziale Stellung oder
dasselbe Amt im Staate haben sollen, was alles Unsinn wäre und gar nicht
widerlegt zu werden brauchte, sondern sie bedeutet, daß jeder das Vermögen,
das Einkommen, die Stellung und das Amt haben soll, das ihm zukommt.
Die Idee des Rechts verurteilt es nicht, daß der eine 1000 und der andre
100000 Mark Einkommen hat, sie verurteilt es bloß, wenn einer, der nur
1000 Mark verdienen wurde, 100000 hat, ein andrer dagegen, der 100000
verdiente, nur 1000. Ob dieser Fall vorkommt, und ob, wenn er vorkommen
sollte, die Gesellschaft Mittel hätte, der Ungerechtigkeit abzuhelfen, darüber
kann gestritten werden, über die Sache selbst aber besteht nnter den Anhängern
der Idee des Naturrechts oder der natürlichen Gerechtigkeit kein Zweifel. Das
bürgerliche Recht nun erfüllt sich mit einem sittlichen Inhalt in dem Maße,
als es die Staatseinrichtungen den Forderungen der natürlichen Gerechtigkeit
anzupassen bestrebt ist; soweit es das nicht thut, muß man ihm vorwerfen,
daß es das natürliche Recht oder die Rechtsgleichheit im oben angegebnen
Sinne verletze.

Huxley wendet nun seine Widerlegung der natürlichen Rechtsgleichheit in
der Polemik gegen Henry George an und sucht zu beweisen, daß es weder ein
Recht auf Arbeit noch ein allgemeines gleiches Recht auf Boden gebe; der Be¬
weis ist von seinen Voraussetzungen aus sehr leicht: da es überhaupt keine
eingebornen natürlichen Rechte giebt, so giebt es anch diese beiden nicht. Besitz¬
lose Menschen suchen Arbeit bei einem Landwirt. "Ich bin außer stände,
irgend welche apriorischen Rechte auf Arbeit zu entdecken, kraft deren diese
Leute darauf bestehen könnten, in Arbeit genommen zu werden, wenn man
ihrer nicht bedarf." Gewiß, von diesem bestimmten Landwirt genommen zu
werden, haben sie kein Recht. Auch vom Staate Arbeit zu fordern, haben sie
vielleicht kein Recht, aber das Recht, sich in diesem Falle zu entleihen, kann
ihnen niemand streitig machen. Bei Naturvölkern werden Kinder, von denen
man glaubt, daß es schwer fallen werde, sie zu ernähren, grundsätzlich getötet,
und der römische Vater hatte das Recht, die Annahme des Kindes zu ver¬
weigern, das er zu erhalten keine Lust hatte, in welchem Falle es ausgesetzt
wurde. Der moderne Staat bestraft, teils von christlichen Ideen, teils von,
politischen Rücksichten geleitet, den Kindesmord, die Kinderaussetzung und
schon die Vernichtung eines keimenden Lebens als Verbrechen; d. h. er zwingt
jeden Menschenkeim, ein wirklicher Mensch zu werden. Dieser Mensch mag
seinen Nebenmenschen gegenüber völlig rechtlos dastehen. Aber das eine
Recht hat er ganz gewiß, wenn diese seine Nebenmenschen keine Verwendung
für ihn haben, sich aus diesem Leben, in das er nicht freiwillig, sondern
gezwungen eingetreten ist, wieder zu entfernen. Ob er dieses Recht Gott
gegenüber hat, ist eine andre Frage, die Menschen haben ihm nichts vor-


Huxley gegen Rousseau und Henry George

auf das, was er verdient. Die natürliche Rechtsgleichheit bedeutet nicht, daß
alle gleich viel Vermögen oder Einkommen oder dieselbe soziale Stellung oder
dasselbe Amt im Staate haben sollen, was alles Unsinn wäre und gar nicht
widerlegt zu werden brauchte, sondern sie bedeutet, daß jeder das Vermögen,
das Einkommen, die Stellung und das Amt haben soll, das ihm zukommt.
Die Idee des Rechts verurteilt es nicht, daß der eine 1000 und der andre
100000 Mark Einkommen hat, sie verurteilt es bloß, wenn einer, der nur
1000 Mark verdienen wurde, 100000 hat, ein andrer dagegen, der 100000
verdiente, nur 1000. Ob dieser Fall vorkommt, und ob, wenn er vorkommen
sollte, die Gesellschaft Mittel hätte, der Ungerechtigkeit abzuhelfen, darüber
kann gestritten werden, über die Sache selbst aber besteht nnter den Anhängern
der Idee des Naturrechts oder der natürlichen Gerechtigkeit kein Zweifel. Das
bürgerliche Recht nun erfüllt sich mit einem sittlichen Inhalt in dem Maße,
als es die Staatseinrichtungen den Forderungen der natürlichen Gerechtigkeit
anzupassen bestrebt ist; soweit es das nicht thut, muß man ihm vorwerfen,
daß es das natürliche Recht oder die Rechtsgleichheit im oben angegebnen
Sinne verletze.

Huxley wendet nun seine Widerlegung der natürlichen Rechtsgleichheit in
der Polemik gegen Henry George an und sucht zu beweisen, daß es weder ein
Recht auf Arbeit noch ein allgemeines gleiches Recht auf Boden gebe; der Be¬
weis ist von seinen Voraussetzungen aus sehr leicht: da es überhaupt keine
eingebornen natürlichen Rechte giebt, so giebt es anch diese beiden nicht. Besitz¬
lose Menschen suchen Arbeit bei einem Landwirt. „Ich bin außer stände,
irgend welche apriorischen Rechte auf Arbeit zu entdecken, kraft deren diese
Leute darauf bestehen könnten, in Arbeit genommen zu werden, wenn man
ihrer nicht bedarf." Gewiß, von diesem bestimmten Landwirt genommen zu
werden, haben sie kein Recht. Auch vom Staate Arbeit zu fordern, haben sie
vielleicht kein Recht, aber das Recht, sich in diesem Falle zu entleihen, kann
ihnen niemand streitig machen. Bei Naturvölkern werden Kinder, von denen
man glaubt, daß es schwer fallen werde, sie zu ernähren, grundsätzlich getötet,
und der römische Vater hatte das Recht, die Annahme des Kindes zu ver¬
weigern, das er zu erhalten keine Lust hatte, in welchem Falle es ausgesetzt
wurde. Der moderne Staat bestraft, teils von christlichen Ideen, teils von,
politischen Rücksichten geleitet, den Kindesmord, die Kinderaussetzung und
schon die Vernichtung eines keimenden Lebens als Verbrechen; d. h. er zwingt
jeden Menschenkeim, ein wirklicher Mensch zu werden. Dieser Mensch mag
seinen Nebenmenschen gegenüber völlig rechtlos dastehen. Aber das eine
Recht hat er ganz gewiß, wenn diese seine Nebenmenschen keine Verwendung
für ihn haben, sich aus diesem Leben, in das er nicht freiwillig, sondern
gezwungen eingetreten ist, wieder zu entfernen. Ob er dieses Recht Gott
gegenüber hat, ist eine andre Frage, die Menschen haben ihm nichts vor-


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[0024] Huxley gegen Rousseau und Henry George auf das, was er verdient. Die natürliche Rechtsgleichheit bedeutet nicht, daß alle gleich viel Vermögen oder Einkommen oder dieselbe soziale Stellung oder dasselbe Amt im Staate haben sollen, was alles Unsinn wäre und gar nicht widerlegt zu werden brauchte, sondern sie bedeutet, daß jeder das Vermögen, das Einkommen, die Stellung und das Amt haben soll, das ihm zukommt. Die Idee des Rechts verurteilt es nicht, daß der eine 1000 und der andre 100000 Mark Einkommen hat, sie verurteilt es bloß, wenn einer, der nur 1000 Mark verdienen wurde, 100000 hat, ein andrer dagegen, der 100000 verdiente, nur 1000. Ob dieser Fall vorkommt, und ob, wenn er vorkommen sollte, die Gesellschaft Mittel hätte, der Ungerechtigkeit abzuhelfen, darüber kann gestritten werden, über die Sache selbst aber besteht nnter den Anhängern der Idee des Naturrechts oder der natürlichen Gerechtigkeit kein Zweifel. Das bürgerliche Recht nun erfüllt sich mit einem sittlichen Inhalt in dem Maße, als es die Staatseinrichtungen den Forderungen der natürlichen Gerechtigkeit anzupassen bestrebt ist; soweit es das nicht thut, muß man ihm vorwerfen, daß es das natürliche Recht oder die Rechtsgleichheit im oben angegebnen Sinne verletze. Huxley wendet nun seine Widerlegung der natürlichen Rechtsgleichheit in der Polemik gegen Henry George an und sucht zu beweisen, daß es weder ein Recht auf Arbeit noch ein allgemeines gleiches Recht auf Boden gebe; der Be¬ weis ist von seinen Voraussetzungen aus sehr leicht: da es überhaupt keine eingebornen natürlichen Rechte giebt, so giebt es anch diese beiden nicht. Besitz¬ lose Menschen suchen Arbeit bei einem Landwirt. „Ich bin außer stände, irgend welche apriorischen Rechte auf Arbeit zu entdecken, kraft deren diese Leute darauf bestehen könnten, in Arbeit genommen zu werden, wenn man ihrer nicht bedarf." Gewiß, von diesem bestimmten Landwirt genommen zu werden, haben sie kein Recht. Auch vom Staate Arbeit zu fordern, haben sie vielleicht kein Recht, aber das Recht, sich in diesem Falle zu entleihen, kann ihnen niemand streitig machen. Bei Naturvölkern werden Kinder, von denen man glaubt, daß es schwer fallen werde, sie zu ernähren, grundsätzlich getötet, und der römische Vater hatte das Recht, die Annahme des Kindes zu ver¬ weigern, das er zu erhalten keine Lust hatte, in welchem Falle es ausgesetzt wurde. Der moderne Staat bestraft, teils von christlichen Ideen, teils von, politischen Rücksichten geleitet, den Kindesmord, die Kinderaussetzung und schon die Vernichtung eines keimenden Lebens als Verbrechen; d. h. er zwingt jeden Menschenkeim, ein wirklicher Mensch zu werden. Dieser Mensch mag seinen Nebenmenschen gegenüber völlig rechtlos dastehen. Aber das eine Recht hat er ganz gewiß, wenn diese seine Nebenmenschen keine Verwendung für ihn haben, sich aus diesem Leben, in das er nicht freiwillig, sondern gezwungen eingetreten ist, wieder zu entfernen. Ob er dieses Recht Gott gegenüber hat, ist eine andre Frage, die Menschen haben ihm nichts vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/24>, abgerufen am 07.01.2025.