Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft?

sich nun, trotzdem daß wir den Regierungsbezirk Potsdam, den Brentano zu
seinem Schaden bei nur 277 °/gg agrarischer Bevölkerung unter die überwiegend
agrarischen gezahlt hat, dahin schieben, wohin er gehört, nämlich unter die
industriellen, daß die überwiegend agrarischen Bezirke einen Geburtenüberschuß
von 14,81, die überwiegend industriellen einen solchen von nur 13,93 auf
1000 der mittlern Bevölkerung erreicht haben. War diese Art der Benutzung
der Reichsstatistik also schou hiernach ein Fehlgriff Brentanos, so muß auch uoch
festgestellt werden, daß er ihre Worte unglücklicherweise nur soweit gelesen
hat, als sie gerade seinen Zwecken tauglich waren. Er schreibt nämlich:

Ferner, während Deutschland einen sehr starken Schritt vom Agrarstacit zum
Industriestaat von 1885/90 bis 1890/95 gemacht hat. hat sich der Geburten¬
überschuß während dieser Zeit im allgemeinen vergrößert. Eine Abnahme fand
nur in wenigen, darunter überwiegend agrarischen, wie überwiegend industriellen
Reichsteilen statt. All dies spricht nicht zu Gunsten der pessimistischen Theorie.

Die Reichsstatistik aber charakterisirt gerade die von ihr beobachtete Ver¬
größerung des Geburtenüberschusses durch folgende Bemerkung: "Das An¬
wachsen des Geburtenüberschusses ist indessen zumeist dadurch hervorgerufen,
daß einem deutlich wahrnehmbaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit ein noch
größerer Rückgang der Sterblichkeit gegenübersteht."

Sodann sucht sie übereilten Folgerungen aus diesen Feststellungen dadurch
zu steuern, daß sie den betreffenden Absatz mit den bedächtigen Worten schließt:
"Worin die Ursachen der verminderten Geburtcnfrequeuz und Sterblichkeit zu
suchen sind, läßt sich von hier aus nicht mit Sicherheit feststellen, da hierzu
ausreichendes Thatsachenmatcrial fehlt. Jedenfalls hat man es hier mit einer
jeuer Schwankungen zu thun, welche der Gang der natürlichen Bevölkcrungs-
vermehrung, solange sie statistisch koutrollirt wird, schon öfter erkennen ließ."

Brentano hat also übersehen, daß die Vergrößerung des Geburtenüber¬
schusses auf einem fast allgemeinen Rückgang der Geburtenhäufigkeit mildernde.
Eine Abnahme der Geburten ist aber uicht bloß in Deutschland, sondern in
den letzten Jahren in beinahe ganz Europa beobachtet worden. Diese und
die übrigen Erscheinungen im Gange der Bevölkerungsbewegung für oder
gegen eine Theorie zu verwenden, muß aber nach dem Hinweis des Kaiser¬
lichen Statistischen Amts, daß ihre Ursachen nicht hinreichend bekannt sind,
sehr bedenklich erscheinen. Die Dauer der Beobachtung ist eben noch zu kurz.

Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil die ländliche Bevölkerung
zur übrigen in einen fchcirfern Gegensatz gebracht werden kann, wollen wir
einmal die "Preußische Statistik," also das amtliche Quellenwerk des Königlich
Preußischen Statistischen Vüreaus (Hest 143, S. XIII) heranziehen, das die Be¬
völkerungsbewegung in Stadt und Land zur Anschauung bringt. Diesem
zufolge kamen in den neunundzwanzig Jahren von 1867 bis 1895 im preußi¬
schen Staat


wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft?

sich nun, trotzdem daß wir den Regierungsbezirk Potsdam, den Brentano zu
seinem Schaden bei nur 277 °/gg agrarischer Bevölkerung unter die überwiegend
agrarischen gezahlt hat, dahin schieben, wohin er gehört, nämlich unter die
industriellen, daß die überwiegend agrarischen Bezirke einen Geburtenüberschuß
von 14,81, die überwiegend industriellen einen solchen von nur 13,93 auf
1000 der mittlern Bevölkerung erreicht haben. War diese Art der Benutzung
der Reichsstatistik also schou hiernach ein Fehlgriff Brentanos, so muß auch uoch
festgestellt werden, daß er ihre Worte unglücklicherweise nur soweit gelesen
hat, als sie gerade seinen Zwecken tauglich waren. Er schreibt nämlich:

Ferner, während Deutschland einen sehr starken Schritt vom Agrarstacit zum
Industriestaat von 1885/90 bis 1890/95 gemacht hat. hat sich der Geburten¬
überschuß während dieser Zeit im allgemeinen vergrößert. Eine Abnahme fand
nur in wenigen, darunter überwiegend agrarischen, wie überwiegend industriellen
Reichsteilen statt. All dies spricht nicht zu Gunsten der pessimistischen Theorie.

Die Reichsstatistik aber charakterisirt gerade die von ihr beobachtete Ver¬
größerung des Geburtenüberschusses durch folgende Bemerkung: „Das An¬
wachsen des Geburtenüberschusses ist indessen zumeist dadurch hervorgerufen,
daß einem deutlich wahrnehmbaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit ein noch
größerer Rückgang der Sterblichkeit gegenübersteht."

Sodann sucht sie übereilten Folgerungen aus diesen Feststellungen dadurch
zu steuern, daß sie den betreffenden Absatz mit den bedächtigen Worten schließt:
„Worin die Ursachen der verminderten Geburtcnfrequeuz und Sterblichkeit zu
suchen sind, läßt sich von hier aus nicht mit Sicherheit feststellen, da hierzu
ausreichendes Thatsachenmatcrial fehlt. Jedenfalls hat man es hier mit einer
jeuer Schwankungen zu thun, welche der Gang der natürlichen Bevölkcrungs-
vermehrung, solange sie statistisch koutrollirt wird, schon öfter erkennen ließ."

Brentano hat also übersehen, daß die Vergrößerung des Geburtenüber¬
schusses auf einem fast allgemeinen Rückgang der Geburtenhäufigkeit mildernde.
Eine Abnahme der Geburten ist aber uicht bloß in Deutschland, sondern in
den letzten Jahren in beinahe ganz Europa beobachtet worden. Diese und
die übrigen Erscheinungen im Gange der Bevölkerungsbewegung für oder
gegen eine Theorie zu verwenden, muß aber nach dem Hinweis des Kaiser¬
lichen Statistischen Amts, daß ihre Ursachen nicht hinreichend bekannt sind,
sehr bedenklich erscheinen. Die Dauer der Beobachtung ist eben noch zu kurz.

Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil die ländliche Bevölkerung
zur übrigen in einen fchcirfern Gegensatz gebracht werden kann, wollen wir
einmal die „Preußische Statistik," also das amtliche Quellenwerk des Königlich
Preußischen Statistischen Vüreaus (Hest 143, S. XIII) heranziehen, das die Be¬
völkerungsbewegung in Stadt und Land zur Anschauung bringt. Diesem
zufolge kamen in den neunundzwanzig Jahren von 1867 bis 1895 im preußi¬
schen Staat


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0215" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227117"/>
          <fw type="header" place="top"> wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_676" prev="#ID_675"> sich nun, trotzdem daß wir den Regierungsbezirk Potsdam, den Brentano zu<lb/>
seinem Schaden bei nur 277 °/gg agrarischer Bevölkerung unter die überwiegend<lb/>
agrarischen gezahlt hat, dahin schieben, wohin er gehört, nämlich unter die<lb/>
industriellen, daß die überwiegend agrarischen Bezirke einen Geburtenüberschuß<lb/>
von 14,81, die überwiegend industriellen einen solchen von nur 13,93 auf<lb/>
1000 der mittlern Bevölkerung erreicht haben. War diese Art der Benutzung<lb/>
der Reichsstatistik also schou hiernach ein Fehlgriff Brentanos, so muß auch uoch<lb/>
festgestellt werden, daß er ihre Worte unglücklicherweise nur soweit gelesen<lb/>
hat, als sie gerade seinen Zwecken tauglich waren.  Er schreibt nämlich:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_677"> Ferner, während Deutschland einen sehr starken Schritt vom Agrarstacit zum<lb/>
Industriestaat von 1885/90 bis 1890/95 gemacht hat. hat sich der Geburten¬<lb/>
überschuß während dieser Zeit im allgemeinen vergrößert. Eine Abnahme fand<lb/>
nur in wenigen, darunter überwiegend agrarischen, wie überwiegend industriellen<lb/>
Reichsteilen statt.  All dies spricht nicht zu Gunsten der pessimistischen Theorie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_678"> Die Reichsstatistik aber charakterisirt gerade die von ihr beobachtete Ver¬<lb/>
größerung des Geburtenüberschusses durch folgende Bemerkung: &#x201E;Das An¬<lb/>
wachsen des Geburtenüberschusses ist indessen zumeist dadurch hervorgerufen,<lb/>
daß einem deutlich wahrnehmbaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit ein noch<lb/>
größerer Rückgang der Sterblichkeit gegenübersteht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_679"> Sodann sucht sie übereilten Folgerungen aus diesen Feststellungen dadurch<lb/>
zu steuern, daß sie den betreffenden Absatz mit den bedächtigen Worten schließt:<lb/>
&#x201E;Worin die Ursachen der verminderten Geburtcnfrequeuz und Sterblichkeit zu<lb/>
suchen sind, läßt sich von hier aus nicht mit Sicherheit feststellen, da hierzu<lb/>
ausreichendes Thatsachenmatcrial fehlt. Jedenfalls hat man es hier mit einer<lb/>
jeuer Schwankungen zu thun, welche der Gang der natürlichen Bevölkcrungs-<lb/>
vermehrung, solange sie statistisch koutrollirt wird, schon öfter erkennen ließ."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_680"> Brentano hat also übersehen, daß die Vergrößerung des Geburtenüber¬<lb/>
schusses auf einem fast allgemeinen Rückgang der Geburtenhäufigkeit mildernde.<lb/>
Eine Abnahme der Geburten ist aber uicht bloß in Deutschland, sondern in<lb/>
den letzten Jahren in beinahe ganz Europa beobachtet worden. Diese und<lb/>
die übrigen Erscheinungen im Gange der Bevölkerungsbewegung für oder<lb/>
gegen eine Theorie zu verwenden, muß aber nach dem Hinweis des Kaiser¬<lb/>
lichen Statistischen Amts, daß ihre Ursachen nicht hinreichend bekannt sind,<lb/>
sehr bedenklich erscheinen. Die Dauer der Beobachtung ist eben noch zu kurz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_681"> Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil die ländliche Bevölkerung<lb/>
zur übrigen in einen fchcirfern Gegensatz gebracht werden kann, wollen wir<lb/>
einmal die &#x201E;Preußische Statistik," also das amtliche Quellenwerk des Königlich<lb/>
Preußischen Statistischen Vüreaus (Hest 143, S. XIII) heranziehen, das die Be¬<lb/>
völkerungsbewegung in Stadt und Land zur Anschauung bringt. Diesem<lb/>
zufolge kamen in den neunundzwanzig Jahren von 1867 bis 1895 im preußi¬<lb/>
schen Staat</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] wieviel Rekruten stellt die Landwirtschaft? sich nun, trotzdem daß wir den Regierungsbezirk Potsdam, den Brentano zu seinem Schaden bei nur 277 °/gg agrarischer Bevölkerung unter die überwiegend agrarischen gezahlt hat, dahin schieben, wohin er gehört, nämlich unter die industriellen, daß die überwiegend agrarischen Bezirke einen Geburtenüberschuß von 14,81, die überwiegend industriellen einen solchen von nur 13,93 auf 1000 der mittlern Bevölkerung erreicht haben. War diese Art der Benutzung der Reichsstatistik also schou hiernach ein Fehlgriff Brentanos, so muß auch uoch festgestellt werden, daß er ihre Worte unglücklicherweise nur soweit gelesen hat, als sie gerade seinen Zwecken tauglich waren. Er schreibt nämlich: Ferner, während Deutschland einen sehr starken Schritt vom Agrarstacit zum Industriestaat von 1885/90 bis 1890/95 gemacht hat. hat sich der Geburten¬ überschuß während dieser Zeit im allgemeinen vergrößert. Eine Abnahme fand nur in wenigen, darunter überwiegend agrarischen, wie überwiegend industriellen Reichsteilen statt. All dies spricht nicht zu Gunsten der pessimistischen Theorie. Die Reichsstatistik aber charakterisirt gerade die von ihr beobachtete Ver¬ größerung des Geburtenüberschusses durch folgende Bemerkung: „Das An¬ wachsen des Geburtenüberschusses ist indessen zumeist dadurch hervorgerufen, daß einem deutlich wahrnehmbaren Rückgang der Geburtenhäufigkeit ein noch größerer Rückgang der Sterblichkeit gegenübersteht." Sodann sucht sie übereilten Folgerungen aus diesen Feststellungen dadurch zu steuern, daß sie den betreffenden Absatz mit den bedächtigen Worten schließt: „Worin die Ursachen der verminderten Geburtcnfrequeuz und Sterblichkeit zu suchen sind, läßt sich von hier aus nicht mit Sicherheit feststellen, da hierzu ausreichendes Thatsachenmatcrial fehlt. Jedenfalls hat man es hier mit einer jeuer Schwankungen zu thun, welche der Gang der natürlichen Bevölkcrungs- vermehrung, solange sie statistisch koutrollirt wird, schon öfter erkennen ließ." Brentano hat also übersehen, daß die Vergrößerung des Geburtenüber¬ schusses auf einem fast allgemeinen Rückgang der Geburtenhäufigkeit mildernde. Eine Abnahme der Geburten ist aber uicht bloß in Deutschland, sondern in den letzten Jahren in beinahe ganz Europa beobachtet worden. Diese und die übrigen Erscheinungen im Gange der Bevölkerungsbewegung für oder gegen eine Theorie zu verwenden, muß aber nach dem Hinweis des Kaiser¬ lichen Statistischen Amts, daß ihre Ursachen nicht hinreichend bekannt sind, sehr bedenklich erscheinen. Die Dauer der Beobachtung ist eben noch zu kurz. Aus diesem Grunde und auch deshalb, weil die ländliche Bevölkerung zur übrigen in einen fchcirfern Gegensatz gebracht werden kann, wollen wir einmal die „Preußische Statistik," also das amtliche Quellenwerk des Königlich Preußischen Statistischen Vüreaus (Hest 143, S. XIII) heranziehen, das die Be¬ völkerungsbewegung in Stadt und Land zur Anschauung bringt. Diesem zufolge kamen in den neunundzwanzig Jahren von 1867 bis 1895 im preußi¬ schen Staat

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/215
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/215>, abgerufen am 08.01.2025.