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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie

siebzehnten Jahrhunderts, daran reichen die Greuel von Dahomey nicht hinan.
Was jene höhere Kultur, die zwar niemals von der Masse aller Europäer,
aber doch nur innerhalb des europäischen Kulturkreises erreicht wird, von allen
Barbaren trennt, gleichviel ob diese im Rufe von Wilden stehen oder wie die
alten Babylonier und die modernen Japaner zu den Kulturvölkern gerechnet
werden, läßt sich ziemlich genau angeben. Auf dem ästhetischen Gebiete, das
als unmittelbar auf die Sinne wirkend den Unterschied am leichtesten erkennen
läßt, ist die Grenze in dem Augenblick überschritten worden, wo die Schönheit
des Menschenleibes und des Menschenantlitzes erkannt und nachgebildet wurde.
Diesen Schritt haben zuerst und aus eigner Kraft ganz allein die alten Griechen
gethan und haben dadurch zuerst die Idee der Humanität verwirklicht, denn
nur wenn einem der höhere geistige Inhalt des Menschemvesens -- der also
vorhanden sein muß -- erschlossen ist, kann ihm seine Schönheit aufgehen.
Die Naturvölker stehen in dieser Beziehung noch auf der Stufe des kindlichen
Versuchs, der es nur bis zur Fratze bringt; ausnahmsweise (man sehe den
etagenartig verzierten der beiden geschnitzten Elefantenzähne II, 338, eine sehr
hohe Leistung) bringen sie es zu annähernder Naturähnlichkeit ohne eine Spur
von Jdealisirung zwar, aber wenigstens auch ohne hervortretendes Wohlgefallen
am Häßlichen. Eine zweite Grenzlinie wird mit dem Glauben an den einen
persönlichen Gott überschritten, wenn dieser als einzige Weltursache, höchste
Vernunft und Quell des Guten und Schönen aufgefaßt wird. Diese Grenze
haben die Griechen in ihren edelsten Geistern, die Juden als Volk überschritten,
und das Christentum hat sich die Aufgabe gestellt, alle Menschen hinüber¬
zuführen. Die dritte Grenzlinie ist erst in neuerer Zeit überschritten worden
durch die methodische Naturwissenschaft und deren Anwendung im methodischen
Erfinden. Wie vor einiger Zeit in den Grenzboten erwähnt wurde, hat der
dänische Pfarrer Martensen Larsen klar gemacht, daß die Überschreitung der
zweiten Stufe die Grundbedingung für die der dritten ist, weil, so lange die
allgemeine Anerkennung der einen vernünftigen Weltursache fehlt, das Volk in
der Vorstellung einer mit Gespenstern erfüllten verhexten Welt befangen bleibt,
die nicht einmal den Gedanken der strengen Kausalität aufkommen, geschweige
denn in eine feste Methode hineinfinden läßt. Schon aus diesem Grunde
wird, wenn die Naturvölker nicht vernichtet, sondern in den europäischen
Kulturkreis hereingezogen werden sollen, die Mitwirkung der christlichen
Missionen nicht zu entbehren sein, die allerdings, wie auch Ratzel andeutet,
ihre Aufgabe nur dann lösen können, wenn sie sie nicht im Sinne einer eng¬
herzigen Orthodoxie auffassen.

Nach alledem ist an der Einheit des Menschengeschlechts als eines von
der Tierheit grundverschiednen Reiches der Schöpfung nicht zu zweifeln, und
Ratzel fordert, daß das, was von Natur ist, auch seiner Idee nach anerkannt
werde. "Wenn nur die Menschheit als ein Jmmerbewegliches ansehen, können


Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie

siebzehnten Jahrhunderts, daran reichen die Greuel von Dahomey nicht hinan.
Was jene höhere Kultur, die zwar niemals von der Masse aller Europäer,
aber doch nur innerhalb des europäischen Kulturkreises erreicht wird, von allen
Barbaren trennt, gleichviel ob diese im Rufe von Wilden stehen oder wie die
alten Babylonier und die modernen Japaner zu den Kulturvölkern gerechnet
werden, läßt sich ziemlich genau angeben. Auf dem ästhetischen Gebiete, das
als unmittelbar auf die Sinne wirkend den Unterschied am leichtesten erkennen
läßt, ist die Grenze in dem Augenblick überschritten worden, wo die Schönheit
des Menschenleibes und des Menschenantlitzes erkannt und nachgebildet wurde.
Diesen Schritt haben zuerst und aus eigner Kraft ganz allein die alten Griechen
gethan und haben dadurch zuerst die Idee der Humanität verwirklicht, denn
nur wenn einem der höhere geistige Inhalt des Menschemvesens — der also
vorhanden sein muß — erschlossen ist, kann ihm seine Schönheit aufgehen.
Die Naturvölker stehen in dieser Beziehung noch auf der Stufe des kindlichen
Versuchs, der es nur bis zur Fratze bringt; ausnahmsweise (man sehe den
etagenartig verzierten der beiden geschnitzten Elefantenzähne II, 338, eine sehr
hohe Leistung) bringen sie es zu annähernder Naturähnlichkeit ohne eine Spur
von Jdealisirung zwar, aber wenigstens auch ohne hervortretendes Wohlgefallen
am Häßlichen. Eine zweite Grenzlinie wird mit dem Glauben an den einen
persönlichen Gott überschritten, wenn dieser als einzige Weltursache, höchste
Vernunft und Quell des Guten und Schönen aufgefaßt wird. Diese Grenze
haben die Griechen in ihren edelsten Geistern, die Juden als Volk überschritten,
und das Christentum hat sich die Aufgabe gestellt, alle Menschen hinüber¬
zuführen. Die dritte Grenzlinie ist erst in neuerer Zeit überschritten worden
durch die methodische Naturwissenschaft und deren Anwendung im methodischen
Erfinden. Wie vor einiger Zeit in den Grenzboten erwähnt wurde, hat der
dänische Pfarrer Martensen Larsen klar gemacht, daß die Überschreitung der
zweiten Stufe die Grundbedingung für die der dritten ist, weil, so lange die
allgemeine Anerkennung der einen vernünftigen Weltursache fehlt, das Volk in
der Vorstellung einer mit Gespenstern erfüllten verhexten Welt befangen bleibt,
die nicht einmal den Gedanken der strengen Kausalität aufkommen, geschweige
denn in eine feste Methode hineinfinden läßt. Schon aus diesem Grunde
wird, wenn die Naturvölker nicht vernichtet, sondern in den europäischen
Kulturkreis hereingezogen werden sollen, die Mitwirkung der christlichen
Missionen nicht zu entbehren sein, die allerdings, wie auch Ratzel andeutet,
ihre Aufgabe nur dann lösen können, wenn sie sie nicht im Sinne einer eng¬
herzigen Orthodoxie auffassen.

Nach alledem ist an der Einheit des Menschengeschlechts als eines von
der Tierheit grundverschiednen Reiches der Schöpfung nicht zu zweifeln, und
Ratzel fordert, daß das, was von Natur ist, auch seiner Idee nach anerkannt
werde. „Wenn nur die Menschheit als ein Jmmerbewegliches ansehen, können


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[0206] Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie siebzehnten Jahrhunderts, daran reichen die Greuel von Dahomey nicht hinan. Was jene höhere Kultur, die zwar niemals von der Masse aller Europäer, aber doch nur innerhalb des europäischen Kulturkreises erreicht wird, von allen Barbaren trennt, gleichviel ob diese im Rufe von Wilden stehen oder wie die alten Babylonier und die modernen Japaner zu den Kulturvölkern gerechnet werden, läßt sich ziemlich genau angeben. Auf dem ästhetischen Gebiete, das als unmittelbar auf die Sinne wirkend den Unterschied am leichtesten erkennen läßt, ist die Grenze in dem Augenblick überschritten worden, wo die Schönheit des Menschenleibes und des Menschenantlitzes erkannt und nachgebildet wurde. Diesen Schritt haben zuerst und aus eigner Kraft ganz allein die alten Griechen gethan und haben dadurch zuerst die Idee der Humanität verwirklicht, denn nur wenn einem der höhere geistige Inhalt des Menschemvesens — der also vorhanden sein muß — erschlossen ist, kann ihm seine Schönheit aufgehen. Die Naturvölker stehen in dieser Beziehung noch auf der Stufe des kindlichen Versuchs, der es nur bis zur Fratze bringt; ausnahmsweise (man sehe den etagenartig verzierten der beiden geschnitzten Elefantenzähne II, 338, eine sehr hohe Leistung) bringen sie es zu annähernder Naturähnlichkeit ohne eine Spur von Jdealisirung zwar, aber wenigstens auch ohne hervortretendes Wohlgefallen am Häßlichen. Eine zweite Grenzlinie wird mit dem Glauben an den einen persönlichen Gott überschritten, wenn dieser als einzige Weltursache, höchste Vernunft und Quell des Guten und Schönen aufgefaßt wird. Diese Grenze haben die Griechen in ihren edelsten Geistern, die Juden als Volk überschritten, und das Christentum hat sich die Aufgabe gestellt, alle Menschen hinüber¬ zuführen. Die dritte Grenzlinie ist erst in neuerer Zeit überschritten worden durch die methodische Naturwissenschaft und deren Anwendung im methodischen Erfinden. Wie vor einiger Zeit in den Grenzboten erwähnt wurde, hat der dänische Pfarrer Martensen Larsen klar gemacht, daß die Überschreitung der zweiten Stufe die Grundbedingung für die der dritten ist, weil, so lange die allgemeine Anerkennung der einen vernünftigen Weltursache fehlt, das Volk in der Vorstellung einer mit Gespenstern erfüllten verhexten Welt befangen bleibt, die nicht einmal den Gedanken der strengen Kausalität aufkommen, geschweige denn in eine feste Methode hineinfinden läßt. Schon aus diesem Grunde wird, wenn die Naturvölker nicht vernichtet, sondern in den europäischen Kulturkreis hereingezogen werden sollen, die Mitwirkung der christlichen Missionen nicht zu entbehren sein, die allerdings, wie auch Ratzel andeutet, ihre Aufgabe nur dann lösen können, wenn sie sie nicht im Sinne einer eng¬ herzigen Orthodoxie auffassen. Nach alledem ist an der Einheit des Menschengeschlechts als eines von der Tierheit grundverschiednen Reiches der Schöpfung nicht zu zweifeln, und Ratzel fordert, daß das, was von Natur ist, auch seiner Idee nach anerkannt werde. „Wenn nur die Menschheit als ein Jmmerbewegliches ansehen, können

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/206>, abgerufen am 08.01.2025.