Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Friedrich Ratzels Völkerkunde und politische Geographie gänzlich; viele Abbildungen (man vergleiche u. a. II, 104, 200, 259, 288, Grenzboten I 1898 26
Friedrich Ratzels Völkerkunde und politische Geographie gänzlich; viele Abbildungen (man vergleiche u. a. II, 104, 200, 259, 288, Grenzboten I 1898 26
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Friedrich Ratzels Völkerkunde und politische Geographie
gänzlich; viele Abbildungen (man vergleiche u. a. II, 104, 200, 259, 288,
352, 358, 363) zeigen europäische und sogar edle Profile. Die geistigen
Anlagen aber bekunden sich schon hinlänglich in der Gestaltung und Ver¬
zierung der Waffen und Gefäße der „Wilden," in der Musterung ihrer
Geflechte und Gewebe, und ein Blick auf die zahlreichen Proben — man
schlage nur z. B. im ersten Bande S. 224, 481 und 505 auf — reicht hin, die
Verallgemeinerung des S. 233 angeführten Ausspruchs Hugo Zöllers zu recht¬
fertigen; er lautet: „Wer von einem wahren und wirklichen Kunstgewerbe der
Papuas spricht, macht sich keiner Übertreibung schuldig." Gleich dem Schön¬
heitssinn und der Fähigkeit und Lust, Schönes zu schaffen, ist auch jede andre
höhere Geistesanlage bei den Wilden zu finden, selbstverständlich in Begleitung
aller Ausartungen, deren die Menschennatur fähig ist. Man findet alle Grade
von Keuschheit und Unkeuschheit, zärtliche Gatten-, Kinder- und Elternliebe
neben Grausamkeiten, die jedoch meistens nur gegen Feinde oder von Despoten
verübt werden, Gemeindeverfassung und Rechtspflege, Ackerbau, Handwerke, Handel
und Marktordnungen, Staaten, die diesen Namen verdienen, obwohl sie der Natur
der Dinge nach ein lockres Gefüge und kurzen Bestand haben (die Darstellungen
der Staatenbildung und Umbildung in Jnnerafrika wie die der damit zu¬
sammenhängenden Völkerwanderungen und Mischungen gehören zu den Ab¬
schnitten in Ratzels Werke, aus denen man ganz neues lernt), und nirgends
fehlen religiöse Vorstellungen, die, so unvollkommen und teilweise abgeschmackt
sie sein mögen, doch über den Kreis des Sichtbaren hinausführen. Jeder
unbefangne Beobachter wird Livingstone beistimmen, dessen Urteil über die
Neger Ratzel II, 13 anführt: „Manchmal üben sie ganz bemerkenswert gute
Thaten aus, lind manchmal das Gegenteil. Nach langer Beobachtung kam ich
zu dem Schlusse, daß sie eine ebenso merkwürdige Mischung vou gut und böse
sind wie alle Menschen." Nur eine einzige Scheußlichkeit, die im Bereiche der
europäischen Kultur uicht vorkommt, läßt sich einzelnen Stämmen der Farbigen
nachsagen, die Menschenfresserei. Die ist aber nicht etwa ein Nest von Tier-
heit — denn höhere Tiere fressen nicht ihresgleichen —, sondern teils ans
religiösem Aberglauben, teils (bei Menschenüberfluß) aus politischen und wirt¬
schaftlichen Erwägungen hervorgegangen, beruht also auf einem Mißbrauch der
Menscheuvernunft. Was die übrigen Grausamkeiten anlangt, so beweist es ein
sehr kurzes Gedächtnis, wenn man ihretwegen den „Wilden" eine tiefere Stufe
unweisen will als den Semiten und den Ariern, und selbst die engere christ¬
liche Welt ist nicht berechtigt, sich höher einzuschätzen. Deren Freiheit von
öffentlich und amtlich verübten Greueln ist eine ganz moderne Erscheinung,
die nicht weiter als bis auf die Hninanitätsbewegung des vorigen Jahrhunderts
zurückreicht; was vordem verübt worden ist, von den byzantinischen Blendungen,
dem Blutgericht Heinrichs VI. in Palermo und den Unthaten Ezzelins an¬
zufangen bis zu den Plünderungsmetzeleien, Folterkammern und Richtplätzen des
Grenzboten I 1898 26
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