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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Friedrich Ratzols Völkerkunde und Politische Geographie

Ziehungen hinter seinen Nachbarn zurücksteht, so verwandelt sich dieses "hinter"
unwillkürlich in ein "unter," d. h. in eine tiefere Sprosse der Leiter, auf der
die Menschheit vom Urzustand zur höchsten Höhe der Kultur aufgestiegen ist.
Das ist das Gegenstück der einseitigen, ja ausschweifenden Idee, daß der Mensch
als ein zivilisirtes Wesen auf die Welt gekommen sei, daß aber eine rückwärts
schreitende Entartung ihn zu dem gemacht habe, was man heute unter den
Naturvölkern findet. So wie jener Entwicklungsgedanke bei den Naturforschern,
hat diese Rückschrittsidee bei den Erforschern der Religion und der Sprache
der Völker aus leicht erkennbaren Gründen den größten Beifall gefunden. In¬
dessen ist sie heute sehr weit in den Hintergrund gedrängt, unsrer Meinung
nach wohl viel zu weit. Von ihr ist für die Forschung weniger Gefahr zu
befürchten als von jener ihr am entschiedensten entgegengesetzten Meinung,
deren Auffassung, in abstrakter Nacktheit ausgesprochen, etwa lauten würde:
es giebt in der Menschheit nur Aufstreben, nur Fortschritt, nur Entwicklung,
keinen Rückgang, keinen Verfall, kein Absterben."

Wie sich also bei keinem der sogenannten Naturvölker ein wirklicher Natur¬
zustand findet, wenn man unter diesem einen völlig kulturlosen versteht, so
giebt es unter ihnen auch keine Individuen, die als unter der Menschennatur
stehend und als Übergänge eines anthropoiden Tiergeschlechts zum Menschen¬
geschlecht angesehen werden könnten. An dem Lichte, das die tausend Ab¬
bildungen dieses Werkes verbreiten, muß auch das härteste Vorurteil schmelzen.
Der "affenartige" Neger existirt nicht; auch die Westafrikaner sind "noch lange
keine Karikaturen, wie man sie sich in der Zeit schlechter ethnographischer
Bilder vorstellte" (II. 326). Was den Körperban anlangt, so ist jedes Wort
des Beweises dafür überflüssig, daß er auch beim verkümmertsten Wilden alle
Merkmale des Menschenleibes trägt, und daß kein taubstummer Wilder in die
Gefahr geraten könnte, für einen Affen gehalten zu werden. Nur das eine
ist zuzugeben, daß die Schwärmer für Natur, die das Apollomodell unter den
Schwarzen suchen, im Irrtum befangen sind: das höchste Schönheitsideal wird
nur im Bereiche der Kultur verwirklicht; aber hübsch gebaute und gut ge¬
wachsene Leute giebt es genug unter den Farbigen, und nur einzelne Stämme
zeichnen sich unvorteilhaft durch Mißgestalt aus; affenartig aber sind weder
die Buschmänner, noch die verkümmerten Zwergmenschen des innerafrikanischen
Urwalds si. 716). Unter den Gesichtern kommen, geradeso wie bei uns, hä߬
liche, gewöhnliche und leidlich hübsche vor. Der Unterschied beschränkt sich
darauf, daß bei den Farbigen wirklich schöne ganz fehlen (bei dem Neger¬
jüngling II. 487, den man beinahe schön nennen könnte, klammert der Ver¬
sasser "Mischling?" ein), während andrerseits die Prognathie namentlich bei
den Australnegern einen Grad von Häßlichkeit erzeugt, der in Europa kaum
vorkommen dürfte. Bei den afrikanischen Negern jedoch ist die Prognathie
bei weitem nicht so' stark, wie man sich gewöhlich vorstellt, ja sie fehlt oft


Friedrich Ratzols Völkerkunde und Politische Geographie

Ziehungen hinter seinen Nachbarn zurücksteht, so verwandelt sich dieses »hinter«
unwillkürlich in ein »unter,« d. h. in eine tiefere Sprosse der Leiter, auf der
die Menschheit vom Urzustand zur höchsten Höhe der Kultur aufgestiegen ist.
Das ist das Gegenstück der einseitigen, ja ausschweifenden Idee, daß der Mensch
als ein zivilisirtes Wesen auf die Welt gekommen sei, daß aber eine rückwärts
schreitende Entartung ihn zu dem gemacht habe, was man heute unter den
Naturvölkern findet. So wie jener Entwicklungsgedanke bei den Naturforschern,
hat diese Rückschrittsidee bei den Erforschern der Religion und der Sprache
der Völker aus leicht erkennbaren Gründen den größten Beifall gefunden. In¬
dessen ist sie heute sehr weit in den Hintergrund gedrängt, unsrer Meinung
nach wohl viel zu weit. Von ihr ist für die Forschung weniger Gefahr zu
befürchten als von jener ihr am entschiedensten entgegengesetzten Meinung,
deren Auffassung, in abstrakter Nacktheit ausgesprochen, etwa lauten würde:
es giebt in der Menschheit nur Aufstreben, nur Fortschritt, nur Entwicklung,
keinen Rückgang, keinen Verfall, kein Absterben."

Wie sich also bei keinem der sogenannten Naturvölker ein wirklicher Natur¬
zustand findet, wenn man unter diesem einen völlig kulturlosen versteht, so
giebt es unter ihnen auch keine Individuen, die als unter der Menschennatur
stehend und als Übergänge eines anthropoiden Tiergeschlechts zum Menschen¬
geschlecht angesehen werden könnten. An dem Lichte, das die tausend Ab¬
bildungen dieses Werkes verbreiten, muß auch das härteste Vorurteil schmelzen.
Der „affenartige" Neger existirt nicht; auch die Westafrikaner sind „noch lange
keine Karikaturen, wie man sie sich in der Zeit schlechter ethnographischer
Bilder vorstellte" (II. 326). Was den Körperban anlangt, so ist jedes Wort
des Beweises dafür überflüssig, daß er auch beim verkümmertsten Wilden alle
Merkmale des Menschenleibes trägt, und daß kein taubstummer Wilder in die
Gefahr geraten könnte, für einen Affen gehalten zu werden. Nur das eine
ist zuzugeben, daß die Schwärmer für Natur, die das Apollomodell unter den
Schwarzen suchen, im Irrtum befangen sind: das höchste Schönheitsideal wird
nur im Bereiche der Kultur verwirklicht; aber hübsch gebaute und gut ge¬
wachsene Leute giebt es genug unter den Farbigen, und nur einzelne Stämme
zeichnen sich unvorteilhaft durch Mißgestalt aus; affenartig aber sind weder
die Buschmänner, noch die verkümmerten Zwergmenschen des innerafrikanischen
Urwalds si. 716). Unter den Gesichtern kommen, geradeso wie bei uns, hä߬
liche, gewöhnliche und leidlich hübsche vor. Der Unterschied beschränkt sich
darauf, daß bei den Farbigen wirklich schöne ganz fehlen (bei dem Neger¬
jüngling II. 487, den man beinahe schön nennen könnte, klammert der Ver¬
sasser „Mischling?" ein), während andrerseits die Prognathie namentlich bei
den Australnegern einen Grad von Häßlichkeit erzeugt, der in Europa kaum
vorkommen dürfte. Bei den afrikanischen Negern jedoch ist die Prognathie
bei weitem nicht so' stark, wie man sich gewöhlich vorstellt, ja sie fehlt oft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/204>, abgerufen am 08.01.2025.