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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Friedrich Ratzels Völkerkunde und politische Geographie

wie denen Südafrikas versagt. Nimmt man nun noch dazu, daß das ganze
Dasein mancher versprengten Stämme in dem mühsamen Erwerb einer kümmer¬
lichen Nahrung aufgehen muß, so kann die tiefe Stufe, auf der wir sie finden,
nicht in Verwunderung setzen, und es wäre ganz unberechtigt, ihnen ein wesent¬
liches Stück menschlicher Begabung abzusprechen. Von den Anlagen, die die
Australier in ihrer Wildnis zu entfalten Gelegenheit gehabt haben, schreibt
Ratzel (I, 315): "Das die Seele niederdrückende Elend hängt als Gegengewicht
daran." Wenn wir trotzdem, heißt es dann weiter von demselben Volke,
"anch hier mehr Geistiges finden, als wir erwarten, haben wir den Eindruck
von Trümmern eines bessern Zustandes." Dieser Eindruck kehrt auch bei vielen
andern Völkern wieder, und wenn wir hierzu die überraschenden Übereinstim¬
mungen der amerikanischen und der ozeanischen Flut- und Schöpfungssagen
mit den Erzählungen der Bibel nehmen, außerdem den Hinweis auf einen ge¬
meinsamen Ursprung der Kultur beachten, der in der Übereinstimmung von Ge¬
bräuchen und Kunstübungen liegt, so gelangen wir in die Nahe des Gedanken¬
kreises, den die christliche Kirche ausgebildet hat. "Als man die Parallelen
zwischen den Kulturvölkern Amerikas und der Alten Welt zu ziehen begann,
übersah man diese zahlreichen Beziehungen zwischen dem Kulturbesitz der ein¬
zelnen Völker der ganzen Erde, von den höchsten Neligionsvvrstellungen bis
hinab zu Einzelheiten im Stile der Waffen und der Tättowirung und suchte
ein beschränktes Auswanderungs- und Ausstrahlungsgebiet mit Vorliebe in
Süd- und Ostasien. Der Ursprung der altamerikanischen Kulturen wird aber
nicht aus einem bestimmten Winkel der Erde und von keinem der noch fort¬
lebenden Kulturvölker herzuleiten sein. Die darauf zielenden Versuche sind
alle unfruchtbar geblieben. Die Wurzeln dieser merkwürdigen Entwicklungen
reichen vielmehr in einen uralten Gemeinbesitz der Menschheit hinab, der im
Laufe vieler vorgeschichtlicher Jahrtausende Zeit fand, sich über die Erde zu
verbreiten" (I, 597). Von diesem Bekenntnis hat man nicht mehr weit bis
zum Glauben an eine Uroffenbarung und an die Wahrheit der biblischen Er¬
zählung von der Völkerscheidung. Ratzel selbst weist zwar die kirchliche Ansicht in
ihrer streng dogmatischen Fassung ab, erkennt aber, wie beides kürzlich auch
von andrer Seite in den Grenzboten geschehen ist, der entgegengesetzten Ansicht
gegenüber ihre relative Berechtigung an. Er sagt von den Entwicklungstheo¬
retikern (I, 14): "Wir wissen diesen vorbereitenden Leistungen Dank, können uns
aber nicht mit ihren Schlußgedanken befreunden. Sie suchen überall "Ur¬
zustande" und "Entwicklung." Hat man nicht das Recht, mit einigem Arg¬
wohn ans wissenschaftlichem Gebiet solchem Suchen zu begegnen, das im vor¬
aus schon so gut weiß, was es finden will? Die Erfahrung lehrt, wie nahe
dabei die Gefahr der Voreingenommenheit liegt. Von einer Möglichkeit er¬
füllt, schlüge man die andern zu gering an. Findet ein von der Idee der Ent¬
wicklung getränkter Forscher ein Volk, das in mehreren oder selbst vielen Be-


Friedrich Ratzels Völkerkunde und politische Geographie

wie denen Südafrikas versagt. Nimmt man nun noch dazu, daß das ganze
Dasein mancher versprengten Stämme in dem mühsamen Erwerb einer kümmer¬
lichen Nahrung aufgehen muß, so kann die tiefe Stufe, auf der wir sie finden,
nicht in Verwunderung setzen, und es wäre ganz unberechtigt, ihnen ein wesent¬
liches Stück menschlicher Begabung abzusprechen. Von den Anlagen, die die
Australier in ihrer Wildnis zu entfalten Gelegenheit gehabt haben, schreibt
Ratzel (I, 315): „Das die Seele niederdrückende Elend hängt als Gegengewicht
daran." Wenn wir trotzdem, heißt es dann weiter von demselben Volke,
„anch hier mehr Geistiges finden, als wir erwarten, haben wir den Eindruck
von Trümmern eines bessern Zustandes." Dieser Eindruck kehrt auch bei vielen
andern Völkern wieder, und wenn wir hierzu die überraschenden Übereinstim¬
mungen der amerikanischen und der ozeanischen Flut- und Schöpfungssagen
mit den Erzählungen der Bibel nehmen, außerdem den Hinweis auf einen ge¬
meinsamen Ursprung der Kultur beachten, der in der Übereinstimmung von Ge¬
bräuchen und Kunstübungen liegt, so gelangen wir in die Nahe des Gedanken¬
kreises, den die christliche Kirche ausgebildet hat. „Als man die Parallelen
zwischen den Kulturvölkern Amerikas und der Alten Welt zu ziehen begann,
übersah man diese zahlreichen Beziehungen zwischen dem Kulturbesitz der ein¬
zelnen Völker der ganzen Erde, von den höchsten Neligionsvvrstellungen bis
hinab zu Einzelheiten im Stile der Waffen und der Tättowirung und suchte
ein beschränktes Auswanderungs- und Ausstrahlungsgebiet mit Vorliebe in
Süd- und Ostasien. Der Ursprung der altamerikanischen Kulturen wird aber
nicht aus einem bestimmten Winkel der Erde und von keinem der noch fort¬
lebenden Kulturvölker herzuleiten sein. Die darauf zielenden Versuche sind
alle unfruchtbar geblieben. Die Wurzeln dieser merkwürdigen Entwicklungen
reichen vielmehr in einen uralten Gemeinbesitz der Menschheit hinab, der im
Laufe vieler vorgeschichtlicher Jahrtausende Zeit fand, sich über die Erde zu
verbreiten" (I, 597). Von diesem Bekenntnis hat man nicht mehr weit bis
zum Glauben an eine Uroffenbarung und an die Wahrheit der biblischen Er¬
zählung von der Völkerscheidung. Ratzel selbst weist zwar die kirchliche Ansicht in
ihrer streng dogmatischen Fassung ab, erkennt aber, wie beides kürzlich auch
von andrer Seite in den Grenzboten geschehen ist, der entgegengesetzten Ansicht
gegenüber ihre relative Berechtigung an. Er sagt von den Entwicklungstheo¬
retikern (I, 14): „Wir wissen diesen vorbereitenden Leistungen Dank, können uns
aber nicht mit ihren Schlußgedanken befreunden. Sie suchen überall »Ur¬
zustande« und »Entwicklung.« Hat man nicht das Recht, mit einigem Arg¬
wohn ans wissenschaftlichem Gebiet solchem Suchen zu begegnen, das im vor¬
aus schon so gut weiß, was es finden will? Die Erfahrung lehrt, wie nahe
dabei die Gefahr der Voreingenommenheit liegt. Von einer Möglichkeit er¬
füllt, schlüge man die andern zu gering an. Findet ein von der Idee der Ent¬
wicklung getränkter Forscher ein Volk, das in mehreren oder selbst vielen Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/203>, abgerufen am 08.01.2025.