Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie verschiedne Gestalten verleihen: den Geist. Gewiß ist es der Fels, der dem Was uns bestimmt, einen Blick auf die beiden große" Werke z" werfe", Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie verschiedne Gestalten verleihen: den Geist. Gewiß ist es der Fels, der dem Was uns bestimmt, einen Blick auf die beiden große» Werke z» werfe», <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0202" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227104"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie</fw><lb/> <p xml:id="ID_634" prev="#ID_633"> verschiedne Gestalten verleihen: den Geist. Gewiß ist es der Fels, der dem<lb/> Wasserfall seine Gestalt verleiht, aber nur unter der Bedingung, daß ein<lb/> Wasser vorhanden ist, das diese Gestalt annimmt; gewiß ist es das Licht, das<lb/> im Krystall ein siebenfältiges Farbenspiel erzeugt, aber der Krystall muß eben<lb/> da sein; und gewiß ist es die Erde, die an verschiednen Stellen ihrer Ober¬<lb/> fläche verschiedne Kulturen erzeugt, aber doch eben nur, wenn Kulturträger,<lb/> wenn geistbegabte Menschen vorhanden sind. Diese Einflüsse und ihre Wirkungs¬<lb/> weise auf der Grundlage der heutigen, über die Ritter-Humboldtsche weit<lb/> hinausgehenden Erd- und Völkerkenntnis in zwei klassische» systematischen<lb/> Werken dargestellt zu haben, denen die geographische Litteratur der andern<lb/> Kulturvölker kaum etwas Ebenbürtiges an die Seite zu setzen haben wird, ist<lb/> das Verdienst Friedrich Ratzels. In seiner längst weltbekannten Völkerkunde<lb/> stellt er den Menschen selbst und seine Kultur dar, wie beide außerhalb unsers<lb/> europäischen Kulturkreises unter verschiedne» Einflüssen vnriiren, in der erst<lb/> gegen Ende des vorige» Jahres (bei N. Oldenbourg in München und Leipzig)<lb/> erschienenen Politischen Geographie stellt er die Abhängigkeit der Staaten¬<lb/> bildung von Boden, Wasser und Lage dar.</p><lb/> <p xml:id="ID_635" next="#ID_636"> Was uns bestimmt, einen Blick auf die beiden große» Werke z» werfe»,<lb/> ist der Umstand, daß ihre Ergebnisse im großen und ganzen mit der Welt¬<lb/> ansicht übereinstimmen, die in den Grenzboten von ander» Mitarbeitern, die<lb/> von andern Wissensgebiete» ausgingen, entwickelt worden ist. Ratzel sindet<lb/> zwischen den höher und den niedriger kultivirten Völkern — unkultivirte giebt<lb/> es überhaupt nicht; die sogenannten Naturvölker sind nur Völker ans niedern<lb/> oder auf andern Kulturstufe» —, er findet zwischen ihnen keinen wesentlichen<lb/> Unterschied der Begabung, und findet die unwesentlichen Unterschiede nicht so<lb/> stark, als sie auf den ersten Blick scheinen. Gleich auf der ersten Seite giebt<lb/> er zu bedenken, „daß die Kluft des Kulturuuterschieds zweier Gruppen der<lb/> Menschheit nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig sein kann vom Unter¬<lb/> schiede der Begabung"; an diesen Unterschied sei daher immer zuletzt, an Unter¬<lb/> schiede der Entwicklung und der Umstünde zuerst zu denken, und diese Mahnung<lb/> wiederholt er bei verschiednen Anlässen. Der Kulturfortschritt ist davon ab¬<lb/> hängig, daß Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in großer Zahl ange¬<lb/> sammelt und von Geschlecht zu Geschlecht stetig überliefert werden. Dazu<lb/> gehört unter andern«, daß das kultnrerzeugeude Volk dicht gedrängt und<lb/> längere Zeit ungestört in seinem Lande wohne und doch auch in Wechselwirkung<lb/> mit andern Völkern bleibe. Die erste Bedingung kann erst erfüllt werden,<lb/> nachdem Ackerbau und Gewerbe die wirtschaftliche Grundlage des Lebens ge¬<lb/> worden sind, und diese Stufe können Völker in weiten Steppen, in Urwäldern<lb/> und in fruchtbaren Tropenländern nicht ohne fremde Hilfe, in den Polar¬<lb/> regionen überhaupt nicht erklimmen; die zweite Bedingung war vor der Aus¬<lb/> bildung des heutigen Weltverkehrs den an insellvsen Meeren lebenden Völkern</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0202]
Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie
verschiedne Gestalten verleihen: den Geist. Gewiß ist es der Fels, der dem
Wasserfall seine Gestalt verleiht, aber nur unter der Bedingung, daß ein
Wasser vorhanden ist, das diese Gestalt annimmt; gewiß ist es das Licht, das
im Krystall ein siebenfältiges Farbenspiel erzeugt, aber der Krystall muß eben
da sein; und gewiß ist es die Erde, die an verschiednen Stellen ihrer Ober¬
fläche verschiedne Kulturen erzeugt, aber doch eben nur, wenn Kulturträger,
wenn geistbegabte Menschen vorhanden sind. Diese Einflüsse und ihre Wirkungs¬
weise auf der Grundlage der heutigen, über die Ritter-Humboldtsche weit
hinausgehenden Erd- und Völkerkenntnis in zwei klassische» systematischen
Werken dargestellt zu haben, denen die geographische Litteratur der andern
Kulturvölker kaum etwas Ebenbürtiges an die Seite zu setzen haben wird, ist
das Verdienst Friedrich Ratzels. In seiner längst weltbekannten Völkerkunde
stellt er den Menschen selbst und seine Kultur dar, wie beide außerhalb unsers
europäischen Kulturkreises unter verschiedne» Einflüssen vnriiren, in der erst
gegen Ende des vorige» Jahres (bei N. Oldenbourg in München und Leipzig)
erschienenen Politischen Geographie stellt er die Abhängigkeit der Staaten¬
bildung von Boden, Wasser und Lage dar.
Was uns bestimmt, einen Blick auf die beiden große» Werke z» werfe»,
ist der Umstand, daß ihre Ergebnisse im großen und ganzen mit der Welt¬
ansicht übereinstimmen, die in den Grenzboten von ander» Mitarbeitern, die
von andern Wissensgebiete» ausgingen, entwickelt worden ist. Ratzel sindet
zwischen den höher und den niedriger kultivirten Völkern — unkultivirte giebt
es überhaupt nicht; die sogenannten Naturvölker sind nur Völker ans niedern
oder auf andern Kulturstufe» —, er findet zwischen ihnen keinen wesentlichen
Unterschied der Begabung, und findet die unwesentlichen Unterschiede nicht so
stark, als sie auf den ersten Blick scheinen. Gleich auf der ersten Seite giebt
er zu bedenken, „daß die Kluft des Kulturuuterschieds zweier Gruppen der
Menschheit nach Breite und Tiefe vollständig unabhängig sein kann vom Unter¬
schiede der Begabung"; an diesen Unterschied sei daher immer zuletzt, an Unter¬
schiede der Entwicklung und der Umstünde zuerst zu denken, und diese Mahnung
wiederholt er bei verschiednen Anlässen. Der Kulturfortschritt ist davon ab¬
hängig, daß Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in großer Zahl ange¬
sammelt und von Geschlecht zu Geschlecht stetig überliefert werden. Dazu
gehört unter andern«, daß das kultnrerzeugeude Volk dicht gedrängt und
längere Zeit ungestört in seinem Lande wohne und doch auch in Wechselwirkung
mit andern Völkern bleibe. Die erste Bedingung kann erst erfüllt werden,
nachdem Ackerbau und Gewerbe die wirtschaftliche Grundlage des Lebens ge¬
worden sind, und diese Stufe können Völker in weiten Steppen, in Urwäldern
und in fruchtbaren Tropenländern nicht ohne fremde Hilfe, in den Polar¬
regionen überhaupt nicht erklimmen; die zweite Bedingung war vor der Aus¬
bildung des heutigen Weltverkehrs den an insellvsen Meeren lebenden Völkern
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