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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Reichsländische Zeitfragen

sie sich nicht von den Ereignissen überholen lassen will. Es ist ja zweifellos,
daß schließlich die Sache der Ordnung siegen muß und siegen wird, aber die
Opfer an Freiheit, Gut und Blut werden unermeßlich und unersetzlich sein,
wenn das Staatsnotrecht in dem Augenblick, wo seine Anwendung zur unab-
weislichen Pflicht werden wird, keine vorausbestimmten, allgemein anerkannten
Bahnen vorfindet; der Weg wird dann dnrch den Drang des Augenblicks,
dnrch rücksichtslose Gewalt und Leidenschaft bestimmt werden. staatsmännische
Verantwortung hat dem vorzubeugen, die schlechteste Beraterin aber ist die
jetzt grassirende Furcht vor den Wahlen.

Solche Erwägungen sind es, die dem Diktaturparagraphen über sein
Geltungsgebiet hinaus politischen Wert verleihen und eine Reichstagsverhand¬
lung über seine Fortgeltung erwünscht machen. Für eine kräftige Offensive
werden die günstigen Erfahrungen, die wir mit ihm im Reichsland gemacht
haben, die besten Dienste thun, während sie, wenn nur die matte Verteidigung
fortgesetzt wird, fast vollständig versagen, weil der Eindruck, daß die Regierung
um eine halb aufgegebne Stellung kämpfe, stärker ist als alle Gründe. Trotz¬
dem möchte ich auch für diesen Fall auf eine Waffe aufmerksam machen, gegen
die unsre Fmnzöslinge gleich schwach sind, mögen sie ihre auostion as cliZnM
mit ungeschickten Q.. .. Kößen, elegischen Flötentönen oder demokratischen
Phrasen vertreten. Das ist nämlich die Thatsache, daß Frankreich in seinen
niöLurvZ ü<z Imutg xolieö oder aotss as ZouvörusmLut etwas unserm Diktatur-
Paragraphen sehr ähnliches hat; was nachdrückliche Macht angeht, so fallen
diese Maßregeln damit vollständig zusammen, und ihre Anwendung ist noch
weniger gehemmt. Das galt schon vor 1870, sodaß die Elsaß-Lothringer
durch den Diktaturparagraphen in ihrer ckignitv gar nicht schlechter gefahren
sind. Das ist ja, wenn man will, nur ein arAuuiöntmin a<1 lloininsm, aber
gegen den französisch gefärbten Separatismus unsrer Abgeordneten ist es
schlagend; das allgemeine Totschweigen dieser unliebsamen Thatsache beweist
es. Die deutschen Freiheitsdoktrinäre dagegen möchte ich daran erinnern, daß
ein anständiger Mann weder persönlich noch als Staatsbürger dnrch Fesseln,
die nur ans Unruhstifter berechnet sind, in seiner Würde und Freiheit Abbruch
erleiden kann; eine solche Auffassung wird streng, aber wirklich würdig durch
die Schillerschen Worte zurückgewiesen: Des Gesetzes strenge Fessel bindet nur
den Sklavensinn, der es verschmäht.

Zum Verständnis des Wahlgesetzantrages sind einige Vorbemerkungen
über die jetzt geltenden Bestimmungen erforderlich. Der Landesausschuß zählt
achtundfunfzig Abgeordnete. Davon werden gewählt: vierunddreißig von
den Bezirkstagen, den Sondervertretungen von Oberelsaß, Unterelsaß und
Lothringen, dann je einer von den zwanzig Landkreisen, genauer ausgedrückt,
von den durch Wahlmänner verkrallten Gemeinderäten der Orte, die in den
Kreisen liegen, endlich je einer unmittelbar von den Gemeinderäten der Städte


Grenzboten I 1898 2
Reichsländische Zeitfragen

sie sich nicht von den Ereignissen überholen lassen will. Es ist ja zweifellos,
daß schließlich die Sache der Ordnung siegen muß und siegen wird, aber die
Opfer an Freiheit, Gut und Blut werden unermeßlich und unersetzlich sein,
wenn das Staatsnotrecht in dem Augenblick, wo seine Anwendung zur unab-
weislichen Pflicht werden wird, keine vorausbestimmten, allgemein anerkannten
Bahnen vorfindet; der Weg wird dann dnrch den Drang des Augenblicks,
dnrch rücksichtslose Gewalt und Leidenschaft bestimmt werden. staatsmännische
Verantwortung hat dem vorzubeugen, die schlechteste Beraterin aber ist die
jetzt grassirende Furcht vor den Wahlen.

Solche Erwägungen sind es, die dem Diktaturparagraphen über sein
Geltungsgebiet hinaus politischen Wert verleihen und eine Reichstagsverhand¬
lung über seine Fortgeltung erwünscht machen. Für eine kräftige Offensive
werden die günstigen Erfahrungen, die wir mit ihm im Reichsland gemacht
haben, die besten Dienste thun, während sie, wenn nur die matte Verteidigung
fortgesetzt wird, fast vollständig versagen, weil der Eindruck, daß die Regierung
um eine halb aufgegebne Stellung kämpfe, stärker ist als alle Gründe. Trotz¬
dem möchte ich auch für diesen Fall auf eine Waffe aufmerksam machen, gegen
die unsre Fmnzöslinge gleich schwach sind, mögen sie ihre auostion as cliZnM
mit ungeschickten Q.. .. Kößen, elegischen Flötentönen oder demokratischen
Phrasen vertreten. Das ist nämlich die Thatsache, daß Frankreich in seinen
niöLurvZ ü<z Imutg xolieö oder aotss as ZouvörusmLut etwas unserm Diktatur-
Paragraphen sehr ähnliches hat; was nachdrückliche Macht angeht, so fallen
diese Maßregeln damit vollständig zusammen, und ihre Anwendung ist noch
weniger gehemmt. Das galt schon vor 1870, sodaß die Elsaß-Lothringer
durch den Diktaturparagraphen in ihrer ckignitv gar nicht schlechter gefahren
sind. Das ist ja, wenn man will, nur ein arAuuiöntmin a<1 lloininsm, aber
gegen den französisch gefärbten Separatismus unsrer Abgeordneten ist es
schlagend; das allgemeine Totschweigen dieser unliebsamen Thatsache beweist
es. Die deutschen Freiheitsdoktrinäre dagegen möchte ich daran erinnern, daß
ein anständiger Mann weder persönlich noch als Staatsbürger dnrch Fesseln,
die nur ans Unruhstifter berechnet sind, in seiner Würde und Freiheit Abbruch
erleiden kann; eine solche Auffassung wird streng, aber wirklich würdig durch
die Schillerschen Worte zurückgewiesen: Des Gesetzes strenge Fessel bindet nur
den Sklavensinn, der es verschmäht.

Zum Verständnis des Wahlgesetzantrages sind einige Vorbemerkungen
über die jetzt geltenden Bestimmungen erforderlich. Der Landesausschuß zählt
achtundfunfzig Abgeordnete. Davon werden gewählt: vierunddreißig von
den Bezirkstagen, den Sondervertretungen von Oberelsaß, Unterelsaß und
Lothringen, dann je einer von den zwanzig Landkreisen, genauer ausgedrückt,
von den durch Wahlmänner verkrallten Gemeinderäten der Orte, die in den
Kreisen liegen, endlich je einer unmittelbar von den Gemeinderäten der Städte


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[0017] Reichsländische Zeitfragen sie sich nicht von den Ereignissen überholen lassen will. Es ist ja zweifellos, daß schließlich die Sache der Ordnung siegen muß und siegen wird, aber die Opfer an Freiheit, Gut und Blut werden unermeßlich und unersetzlich sein, wenn das Staatsnotrecht in dem Augenblick, wo seine Anwendung zur unab- weislichen Pflicht werden wird, keine vorausbestimmten, allgemein anerkannten Bahnen vorfindet; der Weg wird dann dnrch den Drang des Augenblicks, dnrch rücksichtslose Gewalt und Leidenschaft bestimmt werden. staatsmännische Verantwortung hat dem vorzubeugen, die schlechteste Beraterin aber ist die jetzt grassirende Furcht vor den Wahlen. Solche Erwägungen sind es, die dem Diktaturparagraphen über sein Geltungsgebiet hinaus politischen Wert verleihen und eine Reichstagsverhand¬ lung über seine Fortgeltung erwünscht machen. Für eine kräftige Offensive werden die günstigen Erfahrungen, die wir mit ihm im Reichsland gemacht haben, die besten Dienste thun, während sie, wenn nur die matte Verteidigung fortgesetzt wird, fast vollständig versagen, weil der Eindruck, daß die Regierung um eine halb aufgegebne Stellung kämpfe, stärker ist als alle Gründe. Trotz¬ dem möchte ich auch für diesen Fall auf eine Waffe aufmerksam machen, gegen die unsre Fmnzöslinge gleich schwach sind, mögen sie ihre auostion as cliZnM mit ungeschickten Q.. .. Kößen, elegischen Flötentönen oder demokratischen Phrasen vertreten. Das ist nämlich die Thatsache, daß Frankreich in seinen niöLurvZ ü<z Imutg xolieö oder aotss as ZouvörusmLut etwas unserm Diktatur- Paragraphen sehr ähnliches hat; was nachdrückliche Macht angeht, so fallen diese Maßregeln damit vollständig zusammen, und ihre Anwendung ist noch weniger gehemmt. Das galt schon vor 1870, sodaß die Elsaß-Lothringer durch den Diktaturparagraphen in ihrer ckignitv gar nicht schlechter gefahren sind. Das ist ja, wenn man will, nur ein arAuuiöntmin a<1 lloininsm, aber gegen den französisch gefärbten Separatismus unsrer Abgeordneten ist es schlagend; das allgemeine Totschweigen dieser unliebsamen Thatsache beweist es. Die deutschen Freiheitsdoktrinäre dagegen möchte ich daran erinnern, daß ein anständiger Mann weder persönlich noch als Staatsbürger dnrch Fesseln, die nur ans Unruhstifter berechnet sind, in seiner Würde und Freiheit Abbruch erleiden kann; eine solche Auffassung wird streng, aber wirklich würdig durch die Schillerschen Worte zurückgewiesen: Des Gesetzes strenge Fessel bindet nur den Sklavensinn, der es verschmäht. Zum Verständnis des Wahlgesetzantrages sind einige Vorbemerkungen über die jetzt geltenden Bestimmungen erforderlich. Der Landesausschuß zählt achtundfunfzig Abgeordnete. Davon werden gewählt: vierunddreißig von den Bezirkstagen, den Sondervertretungen von Oberelsaß, Unterelsaß und Lothringen, dann je einer von den zwanzig Landkreisen, genauer ausgedrückt, von den durch Wahlmänner verkrallten Gemeinderäten der Orte, die in den Kreisen liegen, endlich je einer unmittelbar von den Gemeinderäten der Städte Grenzboten I 1898 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/17>, abgerufen am 07.01.2025.