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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Säumigen nicht. Es ist doch einleuchtend, daß das Reichstagspräsidium, nach
dessen pflichtmäßigem Ermessen die Initiativanträge an die Reihe kommen,
dabei die beschränkte Zeit des Reichstags in Erwägung zu ziehen hat; wer
durch Abwesenheit "obstruirt," beschränkt die verfügbare Zeit noch mehr und
bringt sich selber um den Anspruch, von dem geringen Rest noch einen Teil
eingeräumt zu erhalten.

Dem Reichstagspräsidium sollte jedes Mittel gegen die Pflichtwidrigkeit
der Reichstagsabgeordneten willkommen sein, aber es ist nicht wahrscheinlich,
daß von diesem Mittel Gebrauch gemacht werden wird, denn es widerspricht
dem Herkommen, und das Herkommen, oder richtiger 'gesagt das, was sich
unter diesem Namen "fortschleppt," ist auch in der Parlamentsleitnng mächtig,
nicht weniger als in der Bernfsbüreaukratie. Im vorliegenden Falle wäre
die Anwendung vielleicht gar nicht zu wünschen, denn alle drei Anträge geben
der Regierung Gelegenheit, ans den entsprechenden Gebieten des öffentlichen
Lebens zum Augriff überzugehen und sich von der Unschlüssigkeit aufzuraffen,
die im Reich wie in unserm Lande gleich lähmend wirkt.

Daß der Diktaturparagraph in Elsaß-Lothringen nicht aufgegeben werden
wird, darf als sicher angesehen werden, mag auch deo Reichstag den Antrag,
der darauf gerichtet ist, zum drittenmal annehmen. Un^re Landesregierung, die
das Machtmittel nicht entbehren kann, sich aber nicht gern unpopulär macht,
kann sich also ihrerseits auch diesmal damit begnügen, das Schreckgespenst
durch ihren Bundesratskommisfar verteidigen zu lassen, torlivorurn. et Icxzoruw
rationo n^ditÄ. Anders steht es mit der Neichsregierung, nicht sowohl des¬
wegen, weil sie es ist, die schließlich zu entscheiden hat, als darum, weil sie
keinen bessern Anhalt hat, ein festes Ordnungsprogramm aufzustellen. Gegen
die revolutionären Bestrebungen, unter denen die der Sozialdemokratie nur
obenanstehen, reicht ja die Übertragung des Diktatnrparagraphcn auf Reich
und Einzelstaaten nicht mehr allein aus, weil der Wust von Zündstoff, der
sich allenthalben aufgesammelt hat, nur durch Spezialvvllmachten weggefegt
werden kann; aber als dauernde Klausel eines sonst zeitlich begrenzten Gesetzes
gegen den Umsturz würde der Diktaturparagraph kräftig nachwirken und eine
neue Ansammlung von Zündstoff verhüten. Seine allgemeinen Vollmachten
sind einerseits sehr umfassend, andrerseits liegen sie in der Hand der Zentral¬
leitung, sodaß er zwar mit großem Nachdruck angewendet werden kann, aber
ein häufiger und kleinlicher Gebrauch ausgeschlossen ist. Er thut nur denen
weh, die selbst weh thun wollen, und schüchtert nur die ein, die andre ein¬
schüchtern möchten. Er ist in der That eine Schutzwehr geordneter Freiheit.
Als solche gehört diese vielgeschmähte, aber wenig bekannte gesetzliche Formu-
lirung des Staatsnotrechts in jede Staatsverfassung, also auch in die Ver¬
fassung des Reichs; es ist die höchste Zeit, daß die Reichsregiernug das be¬
stimmt ausspricht und an die Spitze ihres Ordnungsprogramms stellt, wenn


Säumigen nicht. Es ist doch einleuchtend, daß das Reichstagspräsidium, nach
dessen pflichtmäßigem Ermessen die Initiativanträge an die Reihe kommen,
dabei die beschränkte Zeit des Reichstags in Erwägung zu ziehen hat; wer
durch Abwesenheit „obstruirt," beschränkt die verfügbare Zeit noch mehr und
bringt sich selber um den Anspruch, von dem geringen Rest noch einen Teil
eingeräumt zu erhalten.

Dem Reichstagspräsidium sollte jedes Mittel gegen die Pflichtwidrigkeit
der Reichstagsabgeordneten willkommen sein, aber es ist nicht wahrscheinlich,
daß von diesem Mittel Gebrauch gemacht werden wird, denn es widerspricht
dem Herkommen, und das Herkommen, oder richtiger 'gesagt das, was sich
unter diesem Namen „fortschleppt," ist auch in der Parlamentsleitnng mächtig,
nicht weniger als in der Bernfsbüreaukratie. Im vorliegenden Falle wäre
die Anwendung vielleicht gar nicht zu wünschen, denn alle drei Anträge geben
der Regierung Gelegenheit, ans den entsprechenden Gebieten des öffentlichen
Lebens zum Augriff überzugehen und sich von der Unschlüssigkeit aufzuraffen,
die im Reich wie in unserm Lande gleich lähmend wirkt.

Daß der Diktaturparagraph in Elsaß-Lothringen nicht aufgegeben werden
wird, darf als sicher angesehen werden, mag auch deo Reichstag den Antrag,
der darauf gerichtet ist, zum drittenmal annehmen. Un^re Landesregierung, die
das Machtmittel nicht entbehren kann, sich aber nicht gern unpopulär macht,
kann sich also ihrerseits auch diesmal damit begnügen, das Schreckgespenst
durch ihren Bundesratskommisfar verteidigen zu lassen, torlivorurn. et Icxzoruw
rationo n^ditÄ. Anders steht es mit der Neichsregierung, nicht sowohl des¬
wegen, weil sie es ist, die schließlich zu entscheiden hat, als darum, weil sie
keinen bessern Anhalt hat, ein festes Ordnungsprogramm aufzustellen. Gegen
die revolutionären Bestrebungen, unter denen die der Sozialdemokratie nur
obenanstehen, reicht ja die Übertragung des Diktatnrparagraphcn auf Reich
und Einzelstaaten nicht mehr allein aus, weil der Wust von Zündstoff, der
sich allenthalben aufgesammelt hat, nur durch Spezialvvllmachten weggefegt
werden kann; aber als dauernde Klausel eines sonst zeitlich begrenzten Gesetzes
gegen den Umsturz würde der Diktaturparagraph kräftig nachwirken und eine
neue Ansammlung von Zündstoff verhüten. Seine allgemeinen Vollmachten
sind einerseits sehr umfassend, andrerseits liegen sie in der Hand der Zentral¬
leitung, sodaß er zwar mit großem Nachdruck angewendet werden kann, aber
ein häufiger und kleinlicher Gebrauch ausgeschlossen ist. Er thut nur denen
weh, die selbst weh thun wollen, und schüchtert nur die ein, die andre ein¬
schüchtern möchten. Er ist in der That eine Schutzwehr geordneter Freiheit.
Als solche gehört diese vielgeschmähte, aber wenig bekannte gesetzliche Formu-
lirung des Staatsnotrechts in jede Staatsverfassung, also auch in die Ver¬
fassung des Reichs; es ist die höchste Zeit, daß die Reichsregiernug das be¬
stimmt ausspricht und an die Spitze ihres Ordnungsprogramms stellt, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/16>, abgerufen am 07.01.2025.