Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Das deutsche Dorfwirtshaus wo die genügsamen, dankbaren Bauernblumen, wie Vuschnelken, Hahnenkamm, Aus diesem Widerspruch gehen recht unfreundliche Eigenschaften des Die deutsche Renaissance hat ihre tollsten Sprünge in den neu ein¬ Das deutsche Dorfwirtshaus wo die genügsamen, dankbaren Bauernblumen, wie Vuschnelken, Hahnenkamm, Aus diesem Widerspruch gehen recht unfreundliche Eigenschaften des Die deutsche Renaissance hat ihre tollsten Sprünge in den neu ein¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227060"/> <fw type="header" place="top"> Das deutsche Dorfwirtshaus</fw><lb/> <p xml:id="ID_489" prev="#ID_488"> wo die genügsamen, dankbaren Bauernblumen, wie Vuschnelken, Hahnenkamm,<lb/> Zinnien, Stundenblumen, Rosmarin, nicht mehr die alte Liebe finden. In dem<lb/> Schlafzimmer setzt uns in Staunen jenes untrüglichste Merkmal der Reform: der<lb/> Eimer aus Steingut, in einfachern Verhältnissen aus blauemaillirtem Eisen,<lb/> neben dem Waschtisch. Mit ihm erscheinen glücklicherweise fast regelmäßig die<lb/> umfänglichern Waschschüsseln, die unzweifelhaft die beste von allen Neuerungen<lb/> im deutschen Wirtshauszimmcr sind. Wenn aber daneben noch jenes sinnreichste<lb/> und stilvollste Möbel der Biedermaierkultur erhalten ist, der auf schraubenförmig<lb/> gewundnen Fuße, wie eine Lotosblume, sich dir entgegenhebende Spucknapf, der<lb/> seine Sägespäne unter gedrehten Deckel scheu verhüllt und sich immer an Stellen<lb/> herumtreibt, wo er Gefahr läuft, umgestoßen zu werden, dann stehen zwei<lb/> Zeitalter deutscher Kultur vor dir. Verachte diesen opserschalenähnlichen Spuck¬<lb/> napf nicht, er steht nicht so allein, wie es den Anschein hat. Nicht nur das<lb/> Sofa aus den vierziger oder fünfziger Jahren mit möglichst viel Holz und<lb/> möglichst wenig Polster, nicht nur das Bildnis irgend eines Fürsten oder<lb/> einer Prinzessin, heute Urgreise oder längst zu den Ahnen versammelt, in fast<lb/> märchenhafter Jugendlichkeit, die so strahlend auch selbst vor fünfzig Jahren<lb/> kaum gewesen sein können, nicht nur der graphitglänzende Ofen, der ein huf¬<lb/> eisenförmiges Rohrpaar zur Decke streckt, verzweifelnd über die rasche Ver¬<lb/> gänglichkeit seiner schwer erzeugten Wärme: viel mehr gehört zu ihm, ist ihm<lb/> alters- und kulturverwandt. Oft ist es der ganze Geist des Hauses, der nur<lb/> ein paar neue Formen angenommen hat, die mechanisch angeeignet und an¬<lb/> gelernt sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_490"> Aus diesem Widerspruch gehen recht unfreundliche Eigenschaften des<lb/> modernisirten ländlichen Wirtshauses hervor. Der alte Zustand, der beiseite<lb/> gesetzt werden soll, war das Erzeugnis einer langen ungestörten Entwicklung,<lb/> in der er die organischen Eigenschaften des langsamen Herangewachsenseins erwarb.<lb/> Das alte ländliche Wirtshaus war, ob gut oder schlecht, aus einem Guß.<lb/> Indem nun unkundige Hände Änderungen vornehmen, begegnen uns endlose<lb/> Widersprüche. Der neue Wirt schafft mit gewaltigem Aufwand ein modernes<lb/> Eßgeschirr an, aber seine Frau gehört zu der in Deutschland schrecklich rasch<lb/> zunehmenden Masse von Frauen, die nicht mehr kochen können; daher ein<lb/> ungenießbares Essen auf fein gemaltem Steingut. Und fo weiter durch ge¬<lb/> schliffne Gläser mit schlechtem Wein bis zum Schlafzimmer im modernsten<lb/> Renaissancestil mit unmöglichen Betten.</p><lb/> <p xml:id="ID_491" next="#ID_492"> Die deutsche Renaissance hat ihre tollsten Sprünge in den neu ein¬<lb/> gerichteten Wirtshauszimmern gemacht, die in den zwei letzten Jahrzehnten<lb/> von angeblich wertlosen Gerümpel gereinigt und dafür mit stilvollen Möbeln<lb/> ausgestattet worden sind. Wo Preiserhöhungen für ein Zimmer von achtzehn<lb/> Kreuzer fübt. auf drei Mark eingetreten sind, wie in so vielen Wirtshäusern<lb/> der süddeutschen Sommerfrischen und Fremdcnstüdte, konnte es dem Wirt nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0158]
Das deutsche Dorfwirtshaus
wo die genügsamen, dankbaren Bauernblumen, wie Vuschnelken, Hahnenkamm,
Zinnien, Stundenblumen, Rosmarin, nicht mehr die alte Liebe finden. In dem
Schlafzimmer setzt uns in Staunen jenes untrüglichste Merkmal der Reform: der
Eimer aus Steingut, in einfachern Verhältnissen aus blauemaillirtem Eisen,
neben dem Waschtisch. Mit ihm erscheinen glücklicherweise fast regelmäßig die
umfänglichern Waschschüsseln, die unzweifelhaft die beste von allen Neuerungen
im deutschen Wirtshauszimmcr sind. Wenn aber daneben noch jenes sinnreichste
und stilvollste Möbel der Biedermaierkultur erhalten ist, der auf schraubenförmig
gewundnen Fuße, wie eine Lotosblume, sich dir entgegenhebende Spucknapf, der
seine Sägespäne unter gedrehten Deckel scheu verhüllt und sich immer an Stellen
herumtreibt, wo er Gefahr läuft, umgestoßen zu werden, dann stehen zwei
Zeitalter deutscher Kultur vor dir. Verachte diesen opserschalenähnlichen Spuck¬
napf nicht, er steht nicht so allein, wie es den Anschein hat. Nicht nur das
Sofa aus den vierziger oder fünfziger Jahren mit möglichst viel Holz und
möglichst wenig Polster, nicht nur das Bildnis irgend eines Fürsten oder
einer Prinzessin, heute Urgreise oder längst zu den Ahnen versammelt, in fast
märchenhafter Jugendlichkeit, die so strahlend auch selbst vor fünfzig Jahren
kaum gewesen sein können, nicht nur der graphitglänzende Ofen, der ein huf¬
eisenförmiges Rohrpaar zur Decke streckt, verzweifelnd über die rasche Ver¬
gänglichkeit seiner schwer erzeugten Wärme: viel mehr gehört zu ihm, ist ihm
alters- und kulturverwandt. Oft ist es der ganze Geist des Hauses, der nur
ein paar neue Formen angenommen hat, die mechanisch angeeignet und an¬
gelernt sind.
Aus diesem Widerspruch gehen recht unfreundliche Eigenschaften des
modernisirten ländlichen Wirtshauses hervor. Der alte Zustand, der beiseite
gesetzt werden soll, war das Erzeugnis einer langen ungestörten Entwicklung,
in der er die organischen Eigenschaften des langsamen Herangewachsenseins erwarb.
Das alte ländliche Wirtshaus war, ob gut oder schlecht, aus einem Guß.
Indem nun unkundige Hände Änderungen vornehmen, begegnen uns endlose
Widersprüche. Der neue Wirt schafft mit gewaltigem Aufwand ein modernes
Eßgeschirr an, aber seine Frau gehört zu der in Deutschland schrecklich rasch
zunehmenden Masse von Frauen, die nicht mehr kochen können; daher ein
ungenießbares Essen auf fein gemaltem Steingut. Und fo weiter durch ge¬
schliffne Gläser mit schlechtem Wein bis zum Schlafzimmer im modernsten
Renaissancestil mit unmöglichen Betten.
Die deutsche Renaissance hat ihre tollsten Sprünge in den neu ein¬
gerichteten Wirtshauszimmern gemacht, die in den zwei letzten Jahrzehnten
von angeblich wertlosen Gerümpel gereinigt und dafür mit stilvollen Möbeln
ausgestattet worden sind. Wo Preiserhöhungen für ein Zimmer von achtzehn
Kreuzer fübt. auf drei Mark eingetreten sind, wie in so vielen Wirtshäusern
der süddeutschen Sommerfrischen und Fremdcnstüdte, konnte es dem Wirt nicht
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