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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das deutsche Dorfwirtshaus

Abseits von den Straßen waren aber die Wirtshäuser nur für die
Bauern berechnet. Das machte sich besonders in den bis dahin uur auf
einigen Hauptstraßen durchzognen Alpen fühlbar. Als Ludwig Steub vor
fünfundzwanzig Jahren in die bairischen Alpen und ins tirolische Unterinn¬
thal zog, um neues Material zur zweiten Ausgabe seiner "Drei Sommer in
Tirol" zu sammeln, war dieser Zustand eben in der Umwandlung begriffen.
Steub fand damals in Schliersee schon Markgräfler mit Selterser und die
Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer; aber die Bequemlichkeit der Betten
und Zimmer, und die Höflichkeit und Dienstbereitschaft hatten wenig Fort¬
schritte gemacht. Im Eingang jenes Buches ruft er erstaunt und erschrocken:
Der große Schlag ist geschehen, das bairische Gebirge ist fashionabel geworden!
Aber schon in der Klause bei Kufstein wiederholt er sein oft ansgesprochnes:
Wer in Baiern gut leben will, muß ins Tirol gehen. Die Baiern haben
seitdem von den Tirolern gelernt, und was mehr ist: sie fangen an, das Wirts¬
gewerbe als eine Kunst aufzufassen, die gelernt und geübt sein will. Der
Banernwirt that sich und seinen Gästen genng, wenn er bäurisch sprach und
handelte und bäurische Nahrung bot. Die städtischen Ansprüche ließen ihn
lange unberührt. Zuerst hat er es verstanden, städtische Preise zu fordern.
Dann ließ er sich aber auch zu höhern Leistungen herbei, wobei das weibliche
Element das treibende gewesen zu sein scheint, denn sie zeigten sich zuerst in
der Küche und am Bett.

Es fehlt zwar noch viel im einzelnen, aber im ganzen ist doch der Still¬
stand überwunden und die Notwendigkeit des Fortschritts anerkannt. Eine
ganz neue Erscheinung ist dabei der gewaltig wachsende Einfluß der Gro߬
städte. Münchens Einfluß äußert sich in ganz Baiern von einem Ende bis
zum andern so stark, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank¬
reich verglichen werden kann. Am frühesten ist Münchner Bier in Wettbewerb
mit den Erzengnissen ländlicher Brauereien getreten, die aber in den meisten
Teilen Ober- und Niederbaierns mindestens zur Gleichberechtigung der länd¬
lichen geführt hat. Die "Münchner Neuesten Nachrichten" liegen fast in jedem
Dorfwirtshaus aus, wenigstens in den Sommermonaten. München ist aber
auch der Lieferant von Weinen und Speisen, Möbeln und Zimmerschmuck, und
der wachsende Verkehr in Südbaiern und Nordtirol hat in München eine
große Fremdcnindnstrie hervorgerufen. Der erleichterte Eisenbahnverkehr er¬
möglicht den Wirten und Wirtinnen den Markt der nächstgelcgnen größern
Stadt zu besuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten haben, daß
feinschmeckerischen Gästen zulieb eine Wirtin drei Stunden auf der Eisenbahn
führt, um persönlich die Fasanen zu kaufen, die am Orte uicht zu haben
sind? So ist Braunschweig für den Harz, Görlitz für das Riesen- und Jser-
gebirge Markt geworden, und die Forellen, die man dort ißt, sind oft gerade
so gut Fremdlinge wie der, der durch ihre Verspeisung sein Naturgefühl uoch


Das deutsche Dorfwirtshaus

Abseits von den Straßen waren aber die Wirtshäuser nur für die
Bauern berechnet. Das machte sich besonders in den bis dahin uur auf
einigen Hauptstraßen durchzognen Alpen fühlbar. Als Ludwig Steub vor
fünfundzwanzig Jahren in die bairischen Alpen und ins tirolische Unterinn¬
thal zog, um neues Material zur zweiten Ausgabe seiner „Drei Sommer in
Tirol" zu sammeln, war dieser Zustand eben in der Umwandlung begriffen.
Steub fand damals in Schliersee schon Markgräfler mit Selterser und die
Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer; aber die Bequemlichkeit der Betten
und Zimmer, und die Höflichkeit und Dienstbereitschaft hatten wenig Fort¬
schritte gemacht. Im Eingang jenes Buches ruft er erstaunt und erschrocken:
Der große Schlag ist geschehen, das bairische Gebirge ist fashionabel geworden!
Aber schon in der Klause bei Kufstein wiederholt er sein oft ansgesprochnes:
Wer in Baiern gut leben will, muß ins Tirol gehen. Die Baiern haben
seitdem von den Tirolern gelernt, und was mehr ist: sie fangen an, das Wirts¬
gewerbe als eine Kunst aufzufassen, die gelernt und geübt sein will. Der
Banernwirt that sich und seinen Gästen genng, wenn er bäurisch sprach und
handelte und bäurische Nahrung bot. Die städtischen Ansprüche ließen ihn
lange unberührt. Zuerst hat er es verstanden, städtische Preise zu fordern.
Dann ließ er sich aber auch zu höhern Leistungen herbei, wobei das weibliche
Element das treibende gewesen zu sein scheint, denn sie zeigten sich zuerst in
der Küche und am Bett.

Es fehlt zwar noch viel im einzelnen, aber im ganzen ist doch der Still¬
stand überwunden und die Notwendigkeit des Fortschritts anerkannt. Eine
ganz neue Erscheinung ist dabei der gewaltig wachsende Einfluß der Gro߬
städte. Münchens Einfluß äußert sich in ganz Baiern von einem Ende bis
zum andern so stark, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank¬
reich verglichen werden kann. Am frühesten ist Münchner Bier in Wettbewerb
mit den Erzengnissen ländlicher Brauereien getreten, die aber in den meisten
Teilen Ober- und Niederbaierns mindestens zur Gleichberechtigung der länd¬
lichen geführt hat. Die „Münchner Neuesten Nachrichten" liegen fast in jedem
Dorfwirtshaus aus, wenigstens in den Sommermonaten. München ist aber
auch der Lieferant von Weinen und Speisen, Möbeln und Zimmerschmuck, und
der wachsende Verkehr in Südbaiern und Nordtirol hat in München eine
große Fremdcnindnstrie hervorgerufen. Der erleichterte Eisenbahnverkehr er¬
möglicht den Wirten und Wirtinnen den Markt der nächstgelcgnen größern
Stadt zu besuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten haben, daß
feinschmeckerischen Gästen zulieb eine Wirtin drei Stunden auf der Eisenbahn
führt, um persönlich die Fasanen zu kaufen, die am Orte uicht zu haben
sind? So ist Braunschweig für den Harz, Görlitz für das Riesen- und Jser-
gebirge Markt geworden, und die Forellen, die man dort ißt, sind oft gerade
so gut Fremdlinge wie der, der durch ihre Verspeisung sein Naturgefühl uoch


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[0153] Das deutsche Dorfwirtshaus Abseits von den Straßen waren aber die Wirtshäuser nur für die Bauern berechnet. Das machte sich besonders in den bis dahin uur auf einigen Hauptstraßen durchzognen Alpen fühlbar. Als Ludwig Steub vor fünfundzwanzig Jahren in die bairischen Alpen und ins tirolische Unterinn¬ thal zog, um neues Material zur zweiten Ausgabe seiner „Drei Sommer in Tirol" zu sammeln, war dieser Zustand eben in der Umwandlung begriffen. Steub fand damals in Schliersee schon Markgräfler mit Selterser und die Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer; aber die Bequemlichkeit der Betten und Zimmer, und die Höflichkeit und Dienstbereitschaft hatten wenig Fort¬ schritte gemacht. Im Eingang jenes Buches ruft er erstaunt und erschrocken: Der große Schlag ist geschehen, das bairische Gebirge ist fashionabel geworden! Aber schon in der Klause bei Kufstein wiederholt er sein oft ansgesprochnes: Wer in Baiern gut leben will, muß ins Tirol gehen. Die Baiern haben seitdem von den Tirolern gelernt, und was mehr ist: sie fangen an, das Wirts¬ gewerbe als eine Kunst aufzufassen, die gelernt und geübt sein will. Der Banernwirt that sich und seinen Gästen genng, wenn er bäurisch sprach und handelte und bäurische Nahrung bot. Die städtischen Ansprüche ließen ihn lange unberührt. Zuerst hat er es verstanden, städtische Preise zu fordern. Dann ließ er sich aber auch zu höhern Leistungen herbei, wobei das weibliche Element das treibende gewesen zu sein scheint, denn sie zeigten sich zuerst in der Küche und am Bett. Es fehlt zwar noch viel im einzelnen, aber im ganzen ist doch der Still¬ stand überwunden und die Notwendigkeit des Fortschritts anerkannt. Eine ganz neue Erscheinung ist dabei der gewaltig wachsende Einfluß der Gro߬ städte. Münchens Einfluß äußert sich in ganz Baiern von einem Ende bis zum andern so stark, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank¬ reich verglichen werden kann. Am frühesten ist Münchner Bier in Wettbewerb mit den Erzengnissen ländlicher Brauereien getreten, die aber in den meisten Teilen Ober- und Niederbaierns mindestens zur Gleichberechtigung der länd¬ lichen geführt hat. Die „Münchner Neuesten Nachrichten" liegen fast in jedem Dorfwirtshaus aus, wenigstens in den Sommermonaten. München ist aber auch der Lieferant von Weinen und Speisen, Möbeln und Zimmerschmuck, und der wachsende Verkehr in Südbaiern und Nordtirol hat in München eine große Fremdcnindnstrie hervorgerufen. Der erleichterte Eisenbahnverkehr er¬ möglicht den Wirten und Wirtinnen den Markt der nächstgelcgnen größern Stadt zu besuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten haben, daß feinschmeckerischen Gästen zulieb eine Wirtin drei Stunden auf der Eisenbahn führt, um persönlich die Fasanen zu kaufen, die am Orte uicht zu haben sind? So ist Braunschweig für den Harz, Görlitz für das Riesen- und Jser- gebirge Markt geworden, und die Forellen, die man dort ißt, sind oft gerade so gut Fremdlinge wie der, der durch ihre Verspeisung sein Naturgefühl uoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/153>, abgerufen am 08.01.2025.