Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Das deutsche Dorfwirtshaus das Dorfwirtshans seine behagliche familienhafte Enge abgestreift; in der Jeder von diesen Orten hat heute mindestens ein Wirtshaus, das den Das deutsche Dorfwirtshaus das Dorfwirtshans seine behagliche familienhafte Enge abgestreift; in der Jeder von diesen Orten hat heute mindestens ein Wirtshaus, das den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227054"/> <fw type="header" place="top"> Das deutsche Dorfwirtshaus</fw><lb/> <p xml:id="ID_474" prev="#ID_473"> das Dorfwirtshans seine behagliche familienhafte Enge abgestreift; in der<lb/> Woche gähnt den Besucher das saalartige Wirtszimmer an, wo des Sonntags<lb/> die abgearbeiteten Gesichter der Weber, Bergleute, Glasbläser, Schnitzer, Flechter<lb/> ins Glühen kommen. Wer die Wirtshäuser jeder Stufe zählen wollte, die<lb/> allein im Harz im letzten Menschenalter gebaut worden sind, würde mehrere<lb/> hundert aufzuzählen haben, zu denen noch die alten, aber in jedem Falle<lb/> gründlich erneuerten „Lokale" kommen. Wer erkennt in Harzburg mit seinen<lb/> Reihen großer Hotels das bescheidne Städtchen von 1860 mit seinen paar<lb/> altbürgerlichen Gasthäusern und seinem kaum beachteten schüchternen Anspruch,<lb/> ein Vadeplatz zu werden? Ebenso haben sich viele von den Sommerfrischen<lb/> am Nordfuß der bairischen Alpen zu vielbesuchte» Orten entwickelt. Dörfer<lb/> und Marktflecken wie Garmisch, Partenkirchen, Starnberg, Prien u. a. haben<lb/> ein städtisches Gewand angezogen. Welcher Unterschied, wo auf der einen<lb/> Seite eines Berges ein Örtchen ins Wachsen gekommen ist, während das<lb/> Schwesterstädtchen drüben vernachlässigt wurde: das gasthaus- und villenreiche,<lb/> moderne breite Friedrichsroda auf dieser und das enge, trübe Schmalkalden ans<lb/> jener Seite des Thüringer Waldes. Nicht nur Villen von allen Größen und<lb/> Güter, neue Gasthäuser, Restaurationen und selbst Keime von Kaffeehäusern<lb/> sind entstanden. Daneben sind jene in Fremdeuplätzeu unvermeidlichen Tand¬<lb/> läden mit geschnitzten, gestanzten, geklecksten (oder erst zu beklecksenden) Andenken,<lb/> banalen Bilderpostkarten u. dergl. wie Pilze emporgeschossen. Wenigstens im<lb/> Dunstkreis der Bahnhöfe und Dampfschiffländen ist der ländliche Duft gänzlich<lb/> abgestreift.</p><lb/> <p xml:id="ID_475"> Jeder von diesen Orten hat heute mindestens ein Wirtshaus, das den<lb/> Anspruch erhebt, ein „Haus ersten Ranges" zu sein. Vor dreißig Jahren<lb/> war auch schau eins da, das für das beste galt; damals war es in der Regel<lb/> noch die Post. Einzelne Gasthäuser waren schon weithin berühmt, nicht durch<lb/> Reisehandbücher, die damals für unsre Gebirge erst zu entstehen begannen, und<lb/> nicht durch Reklame, die man noch nicht kannte, sondern durch die Überlieferung<lb/> von Mund zu Mund. Sie zeichneten sich durch bessere Zimmer und sorg¬<lb/> fältigere, nicht gerade feinere Küche aus, besteuerten aber den Fremdling nicht<lb/> beträchtlich höher als die anspruchsloser» Gasthäuser daneben, unter denen in<lb/> der Regel eines durch die Güte des eignen Weines oder Bieres berühmt war.<lb/> Die Abstufung lag überhaupt weniger in den Ansprüchen und in den Preisen<lb/> als in der Gewohnheit. Den altbürgerlichen Komfort, der nicht vom Tapezierer<lb/> aus der Stadt auf Bestellung geschaffen, sondern das Erzeugnis eines fest-<lb/> begründeten Wohlstands war, fand man in einem bescheidnen Hanse oft noch<lb/> besser als in einem anspruchsvollern. Doch lag ein seitdem verschwundiier<lb/> Unterschied auch darin, daß in dem größern, besuchter» Haus die Leute ge¬<lb/> wöhnt waren, Gäste zu empfangen, die in einem kleinern oft als Unbequem¬<lb/> lichkeit behandelt wurden.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0152]
Das deutsche Dorfwirtshaus
das Dorfwirtshans seine behagliche familienhafte Enge abgestreift; in der
Woche gähnt den Besucher das saalartige Wirtszimmer an, wo des Sonntags
die abgearbeiteten Gesichter der Weber, Bergleute, Glasbläser, Schnitzer, Flechter
ins Glühen kommen. Wer die Wirtshäuser jeder Stufe zählen wollte, die
allein im Harz im letzten Menschenalter gebaut worden sind, würde mehrere
hundert aufzuzählen haben, zu denen noch die alten, aber in jedem Falle
gründlich erneuerten „Lokale" kommen. Wer erkennt in Harzburg mit seinen
Reihen großer Hotels das bescheidne Städtchen von 1860 mit seinen paar
altbürgerlichen Gasthäusern und seinem kaum beachteten schüchternen Anspruch,
ein Vadeplatz zu werden? Ebenso haben sich viele von den Sommerfrischen
am Nordfuß der bairischen Alpen zu vielbesuchte» Orten entwickelt. Dörfer
und Marktflecken wie Garmisch, Partenkirchen, Starnberg, Prien u. a. haben
ein städtisches Gewand angezogen. Welcher Unterschied, wo auf der einen
Seite eines Berges ein Örtchen ins Wachsen gekommen ist, während das
Schwesterstädtchen drüben vernachlässigt wurde: das gasthaus- und villenreiche,
moderne breite Friedrichsroda auf dieser und das enge, trübe Schmalkalden ans
jener Seite des Thüringer Waldes. Nicht nur Villen von allen Größen und
Güter, neue Gasthäuser, Restaurationen und selbst Keime von Kaffeehäusern
sind entstanden. Daneben sind jene in Fremdeuplätzeu unvermeidlichen Tand¬
läden mit geschnitzten, gestanzten, geklecksten (oder erst zu beklecksenden) Andenken,
banalen Bilderpostkarten u. dergl. wie Pilze emporgeschossen. Wenigstens im
Dunstkreis der Bahnhöfe und Dampfschiffländen ist der ländliche Duft gänzlich
abgestreift.
Jeder von diesen Orten hat heute mindestens ein Wirtshaus, das den
Anspruch erhebt, ein „Haus ersten Ranges" zu sein. Vor dreißig Jahren
war auch schau eins da, das für das beste galt; damals war es in der Regel
noch die Post. Einzelne Gasthäuser waren schon weithin berühmt, nicht durch
Reisehandbücher, die damals für unsre Gebirge erst zu entstehen begannen, und
nicht durch Reklame, die man noch nicht kannte, sondern durch die Überlieferung
von Mund zu Mund. Sie zeichneten sich durch bessere Zimmer und sorg¬
fältigere, nicht gerade feinere Küche aus, besteuerten aber den Fremdling nicht
beträchtlich höher als die anspruchsloser» Gasthäuser daneben, unter denen in
der Regel eines durch die Güte des eignen Weines oder Bieres berühmt war.
Die Abstufung lag überhaupt weniger in den Ansprüchen und in den Preisen
als in der Gewohnheit. Den altbürgerlichen Komfort, der nicht vom Tapezierer
aus der Stadt auf Bestellung geschaffen, sondern das Erzeugnis eines fest-
begründeten Wohlstands war, fand man in einem bescheidnen Hanse oft noch
besser als in einem anspruchsvollern. Doch lag ein seitdem verschwundiier
Unterschied auch darin, daß in dem größern, besuchter» Haus die Leute ge¬
wöhnt waren, Gäste zu empfangen, die in einem kleinern oft als Unbequem¬
lichkeit behandelt wurden.
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