Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sagenbildung und Sagenentwicklung

Rolle der des Burgunden Günther. Darf man sich nach dieser Zusammen¬
stellung nicht wundern, daß unter allen denkbaren Gleichungen bisher nur die
nebensächlichste einigermaßen anerkannt war, nämlich die des Merowings
Chilpcrich mit dem in der nordischen Sagenform auftretenden Hjalprekr?

Freilich bleibt uoch eine wirkliche Schwierigkeit zu überwinden: soll
nämlich die sagenhafte Brunhild dieselbe Gestalt wie die geschichtliche sein, die
erst 613 starb, so muß die ganze Sage beträchtlich jünger sein, als man bisher
angenommen hat; sie könnte schwerlich vor 700 die später geltenden Grund¬
züge erlangt haben. Aber auch dieser späte Ursprung der Siegfriedsage läßt
sich durch ein äußeres Zeugnis wahrscheinlich machen: wir haben in der angel¬
sächsischen Litteratur eine große Menge Belege für alle möglichen deutschen
Sagen, und diese Belege gehören im wesentlichen dem achten Jahrhundert an;
nnter ihnen findet sich aber nicht ein einziger für die Siegfriedsage, denn den
schon erwähnten, der Siegmund (später Siegfrieds Vater) samt dem Drachen¬
kampf und dem Hortgewinn kennt, mußten wir gerade von Siegfried trennen.

Der Niederschlag, den die Geschichte jener Merowinge als Sage hinter¬
lassen hat, ist wohl bald, etwa um 700, mit der geschichtlichen Attila-Vur-
gnndenscige in der Weise vereinigt worden, daß einige Personen der einen mit
Personen der andern gleichgesetzt wurden, so Guntrcnn -- Günther, Fredc-
gnnd ^ Kriemhild (Hildiko). Diese Vereinigung wird es gewesen sein, die,
so äußerlich sie auch war, die starke Verschiebung in der Gruppirung der Züge
des ersten Teiles zu stände brachte. Daß diese Verschiebung notwendig war,
ergiebt sich schon aus folgendem: trat an die Stelle der Fredegnnd die Kriem-
hild, die Günthers Gnntrams Schwester war, so konnte ihr Gemahl nicht
mehr ein Bruder Gnntrams sein, sonst wäre er ihr eigner Bruder gewesen;
so wurde der Merowing Sigebert zum Findling Siegfried. Der Siegfriedsage
wurde dann als Vorgeschichte die schon bestehende Sage von Siegmund vor¬
geschoben, offenbar infolge der Namenverwandtschaft; von ihr gingen dann
einige Züge in die Siegfriedsage über.

Es liegt mir völlig fern, die hier vorgetragnen Ausführungen als voll¬
ständig bewiesen ansehen zu wollen. Aber einen gewissen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit glaube ich erreicht zu haben, und damit kaun man wohl zufrieden
sein, denn wirklich beweisen läßt sich in solchen Dingen wenig.

Etwa um das Jahr 800 ist dann die äußerlich verbundne Siegfried-
Burgnndensage nach dem Norden gelangt, als erste aller deutschen Sagen
offenbar deshalb, weil sie in Niederfranken, an der Mündung des Rheins, zu
Hause war, wohin sich schon frühzeitig die Fahrten der nordischen Wikinge
richteten.

In Deutschland hat sie in den folgenden vier Jahrhunderten eine Weiter¬
entwicklung erfahren, die klarer vor uns liegt als der Ursprung ihres ersten
Teiles, und die wieder deutlich zeigt, wie sich Sagen umbilden.


Grenzboten I 1898 1!)
Sagenbildung und Sagenentwicklung

Rolle der des Burgunden Günther. Darf man sich nach dieser Zusammen¬
stellung nicht wundern, daß unter allen denkbaren Gleichungen bisher nur die
nebensächlichste einigermaßen anerkannt war, nämlich die des Merowings
Chilpcrich mit dem in der nordischen Sagenform auftretenden Hjalprekr?

Freilich bleibt uoch eine wirkliche Schwierigkeit zu überwinden: soll
nämlich die sagenhafte Brunhild dieselbe Gestalt wie die geschichtliche sein, die
erst 613 starb, so muß die ganze Sage beträchtlich jünger sein, als man bisher
angenommen hat; sie könnte schwerlich vor 700 die später geltenden Grund¬
züge erlangt haben. Aber auch dieser späte Ursprung der Siegfriedsage läßt
sich durch ein äußeres Zeugnis wahrscheinlich machen: wir haben in der angel¬
sächsischen Litteratur eine große Menge Belege für alle möglichen deutschen
Sagen, und diese Belege gehören im wesentlichen dem achten Jahrhundert an;
nnter ihnen findet sich aber nicht ein einziger für die Siegfriedsage, denn den
schon erwähnten, der Siegmund (später Siegfrieds Vater) samt dem Drachen¬
kampf und dem Hortgewinn kennt, mußten wir gerade von Siegfried trennen.

Der Niederschlag, den die Geschichte jener Merowinge als Sage hinter¬
lassen hat, ist wohl bald, etwa um 700, mit der geschichtlichen Attila-Vur-
gnndenscige in der Weise vereinigt worden, daß einige Personen der einen mit
Personen der andern gleichgesetzt wurden, so Guntrcnn — Günther, Fredc-
gnnd ^ Kriemhild (Hildiko). Diese Vereinigung wird es gewesen sein, die,
so äußerlich sie auch war, die starke Verschiebung in der Gruppirung der Züge
des ersten Teiles zu stände brachte. Daß diese Verschiebung notwendig war,
ergiebt sich schon aus folgendem: trat an die Stelle der Fredegnnd die Kriem-
hild, die Günthers Gnntrams Schwester war, so konnte ihr Gemahl nicht
mehr ein Bruder Gnntrams sein, sonst wäre er ihr eigner Bruder gewesen;
so wurde der Merowing Sigebert zum Findling Siegfried. Der Siegfriedsage
wurde dann als Vorgeschichte die schon bestehende Sage von Siegmund vor¬
geschoben, offenbar infolge der Namenverwandtschaft; von ihr gingen dann
einige Züge in die Siegfriedsage über.

Es liegt mir völlig fern, die hier vorgetragnen Ausführungen als voll¬
ständig bewiesen ansehen zu wollen. Aber einen gewissen Grad von Wahr¬
scheinlichkeit glaube ich erreicht zu haben, und damit kaun man wohl zufrieden
sein, denn wirklich beweisen läßt sich in solchen Dingen wenig.

Etwa um das Jahr 800 ist dann die äußerlich verbundne Siegfried-
Burgnndensage nach dem Norden gelangt, als erste aller deutschen Sagen
offenbar deshalb, weil sie in Niederfranken, an der Mündung des Rheins, zu
Hause war, wohin sich schon frühzeitig die Fahrten der nordischen Wikinge
richteten.

In Deutschland hat sie in den folgenden vier Jahrhunderten eine Weiter¬
entwicklung erfahren, die klarer vor uns liegt als der Ursprung ihres ersten
Teiles, und die wieder deutlich zeigt, wie sich Sagen umbilden.


Grenzboten I 1898 1!)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227051"/>
          <fw type="header" place="top"> Sagenbildung und Sagenentwicklung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_461" prev="#ID_460"> Rolle der des Burgunden Günther. Darf man sich nach dieser Zusammen¬<lb/>
stellung nicht wundern, daß unter allen denkbaren Gleichungen bisher nur die<lb/>
nebensächlichste einigermaßen anerkannt war, nämlich die des Merowings<lb/>
Chilpcrich mit dem in der nordischen Sagenform auftretenden Hjalprekr?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_462"> Freilich bleibt uoch eine wirkliche Schwierigkeit zu überwinden: soll<lb/>
nämlich die sagenhafte Brunhild dieselbe Gestalt wie die geschichtliche sein, die<lb/>
erst 613 starb, so muß die ganze Sage beträchtlich jünger sein, als man bisher<lb/>
angenommen hat; sie könnte schwerlich vor 700 die später geltenden Grund¬<lb/>
züge erlangt haben. Aber auch dieser späte Ursprung der Siegfriedsage läßt<lb/>
sich durch ein äußeres Zeugnis wahrscheinlich machen: wir haben in der angel¬<lb/>
sächsischen Litteratur eine große Menge Belege für alle möglichen deutschen<lb/>
Sagen, und diese Belege gehören im wesentlichen dem achten Jahrhundert an;<lb/>
nnter ihnen findet sich aber nicht ein einziger für die Siegfriedsage, denn den<lb/>
schon erwähnten, der Siegmund (später Siegfrieds Vater) samt dem Drachen¬<lb/>
kampf und dem Hortgewinn kennt, mußten wir gerade von Siegfried trennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_463"> Der Niederschlag, den die Geschichte jener Merowinge als Sage hinter¬<lb/>
lassen hat, ist wohl bald, etwa um 700, mit der geschichtlichen Attila-Vur-<lb/>
gnndenscige in der Weise vereinigt worden, daß einige Personen der einen mit<lb/>
Personen der andern gleichgesetzt wurden, so Guntrcnn &#x2014; Günther, Fredc-<lb/>
gnnd ^ Kriemhild (Hildiko). Diese Vereinigung wird es gewesen sein, die,<lb/>
so äußerlich sie auch war, die starke Verschiebung in der Gruppirung der Züge<lb/>
des ersten Teiles zu stände brachte. Daß diese Verschiebung notwendig war,<lb/>
ergiebt sich schon aus folgendem: trat an die Stelle der Fredegnnd die Kriem-<lb/>
hild, die Günthers Gnntrams Schwester war, so konnte ihr Gemahl nicht<lb/>
mehr ein Bruder Gnntrams sein, sonst wäre er ihr eigner Bruder gewesen;<lb/>
so wurde der Merowing Sigebert zum Findling Siegfried. Der Siegfriedsage<lb/>
wurde dann als Vorgeschichte die schon bestehende Sage von Siegmund vor¬<lb/>
geschoben, offenbar infolge der Namenverwandtschaft; von ihr gingen dann<lb/>
einige Züge in die Siegfriedsage über.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_464"> Es liegt mir völlig fern, die hier vorgetragnen Ausführungen als voll¬<lb/>
ständig bewiesen ansehen zu wollen. Aber einen gewissen Grad von Wahr¬<lb/>
scheinlichkeit glaube ich erreicht zu haben, und damit kaun man wohl zufrieden<lb/>
sein, denn wirklich beweisen läßt sich in solchen Dingen wenig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_465"> Etwa um das Jahr 800 ist dann die äußerlich verbundne Siegfried-<lb/>
Burgnndensage nach dem Norden gelangt, als erste aller deutschen Sagen<lb/>
offenbar deshalb, weil sie in Niederfranken, an der Mündung des Rheins, zu<lb/>
Hause war, wohin sich schon frühzeitig die Fahrten der nordischen Wikinge<lb/>
richteten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_466"> In Deutschland hat sie in den folgenden vier Jahrhunderten eine Weiter¬<lb/>
entwicklung erfahren, die klarer vor uns liegt als der Ursprung ihres ersten<lb/>
Teiles, und die wieder deutlich zeigt, wie sich Sagen umbilden.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1898 1!)</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] Sagenbildung und Sagenentwicklung Rolle der des Burgunden Günther. Darf man sich nach dieser Zusammen¬ stellung nicht wundern, daß unter allen denkbaren Gleichungen bisher nur die nebensächlichste einigermaßen anerkannt war, nämlich die des Merowings Chilpcrich mit dem in der nordischen Sagenform auftretenden Hjalprekr? Freilich bleibt uoch eine wirkliche Schwierigkeit zu überwinden: soll nämlich die sagenhafte Brunhild dieselbe Gestalt wie die geschichtliche sein, die erst 613 starb, so muß die ganze Sage beträchtlich jünger sein, als man bisher angenommen hat; sie könnte schwerlich vor 700 die später geltenden Grund¬ züge erlangt haben. Aber auch dieser späte Ursprung der Siegfriedsage läßt sich durch ein äußeres Zeugnis wahrscheinlich machen: wir haben in der angel¬ sächsischen Litteratur eine große Menge Belege für alle möglichen deutschen Sagen, und diese Belege gehören im wesentlichen dem achten Jahrhundert an; nnter ihnen findet sich aber nicht ein einziger für die Siegfriedsage, denn den schon erwähnten, der Siegmund (später Siegfrieds Vater) samt dem Drachen¬ kampf und dem Hortgewinn kennt, mußten wir gerade von Siegfried trennen. Der Niederschlag, den die Geschichte jener Merowinge als Sage hinter¬ lassen hat, ist wohl bald, etwa um 700, mit der geschichtlichen Attila-Vur- gnndenscige in der Weise vereinigt worden, daß einige Personen der einen mit Personen der andern gleichgesetzt wurden, so Guntrcnn — Günther, Fredc- gnnd ^ Kriemhild (Hildiko). Diese Vereinigung wird es gewesen sein, die, so äußerlich sie auch war, die starke Verschiebung in der Gruppirung der Züge des ersten Teiles zu stände brachte. Daß diese Verschiebung notwendig war, ergiebt sich schon aus folgendem: trat an die Stelle der Fredegnnd die Kriem- hild, die Günthers Gnntrams Schwester war, so konnte ihr Gemahl nicht mehr ein Bruder Gnntrams sein, sonst wäre er ihr eigner Bruder gewesen; so wurde der Merowing Sigebert zum Findling Siegfried. Der Siegfriedsage wurde dann als Vorgeschichte die schon bestehende Sage von Siegmund vor¬ geschoben, offenbar infolge der Namenverwandtschaft; von ihr gingen dann einige Züge in die Siegfriedsage über. Es liegt mir völlig fern, die hier vorgetragnen Ausführungen als voll¬ ständig bewiesen ansehen zu wollen. Aber einen gewissen Grad von Wahr¬ scheinlichkeit glaube ich erreicht zu haben, und damit kaun man wohl zufrieden sein, denn wirklich beweisen läßt sich in solchen Dingen wenig. Etwa um das Jahr 800 ist dann die äußerlich verbundne Siegfried- Burgnndensage nach dem Norden gelangt, als erste aller deutschen Sagen offenbar deshalb, weil sie in Niederfranken, an der Mündung des Rheins, zu Hause war, wohin sich schon frühzeitig die Fahrten der nordischen Wikinge richteten. In Deutschland hat sie in den folgenden vier Jahrhunderten eine Weiter¬ entwicklung erfahren, die klarer vor uns liegt als der Ursprung ihres ersten Teiles, und die wieder deutlich zeigt, wie sich Sagen umbilden. Grenzboten I 1898 1!)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/149>, abgerufen am 08.01.2025.