Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sagenbildung und Sagenentwicklung Zunächst ist der Anstoß, der darin liegt, daß die beiden Teile nur äußer¬ Es ist in dieser Darstellung eine große Masse wichtiger Einzelheiten un¬ Jedenfalls würde es unmethodisch sein, eine deutsche Sage deshalb für Sagenbildung und Sagenentwicklung Zunächst ist der Anstoß, der darin liegt, daß die beiden Teile nur äußer¬ Es ist in dieser Darstellung eine große Masse wichtiger Einzelheiten un¬ Jedenfalls würde es unmethodisch sein, eine deutsche Sage deshalb für <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227052"/> <fw type="header" place="top"> Sagenbildung und Sagenentwicklung</fw><lb/> <p xml:id="ID_467"> Zunächst ist der Anstoß, der darin liegt, daß die beiden Teile nur äußer¬<lb/> lich zusammenhängen, beseitigt worden; ein zweifellos nicht unbedeutender<lb/> Dichter hat die Lücke dadurch geschlossen, daß er den Untergang der Burgunden<lb/> als die Rache der Kriemhild für die Ermordung ihres ersten Gemahls auf¬<lb/> faßte. Diese Auffassung hat aber zur Folge, daß die Wünsche Etzels und<lb/> Kriemhilts bei jener Vernichtung uicht mehr einander entgegen stehen, sondern<lb/> in einander aufgehen; somit hat Kriemhild gar leine Veranlassung mehr, Etzel<lb/> deshalb zu grollen, kann ihn also auch nicht mehr ermorden. Und so haben<lb/> wir das merkwürdige und wichtige Ergebnis, daß eine Sage, die sicher von<lb/> Attilas Tode ausgeht, nach Verlauf einiger Jahrhunderte von diesem Tode<lb/> gar nichts mehr zu erzählen weiß. Später hat dieser Umstand eine Nach¬<lb/> dichtung hervorgerufen, in der ein nachgeborner Sohn Hagens die Rache an<lb/> Attila übernimmt. Ehe das aber geschah, wurde die Sage nach Vaiern über¬<lb/> tragen, etwa im zehnten Jahrhundert, und hier hat sie sich natürlich sofort<lb/> in die Dietrichsage einfügen müssen; das nötige Bindeglied war dadurch schon<lb/> gegeben, daß hier wie dort der Hunnenkönig Attila eine hervorragende Rolle<lb/> spielte. So versetzte man denn den Untergang der Vurguuden in die Zeit,<lb/> wo Dietrich an Etzels Hofe lebte, und ließ diesen, als anerkannten Haupthelden,<lb/> die Entscheidung im Kampfe bringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_468"> Es ist in dieser Darstellung eine große Masse wichtiger Einzelheiten un¬<lb/> erwähnt geblieben. Dennoch hoffe ich, im wesentlichen gezeigt zu haben, wie<lb/> sich die deutsche Heldensage gebildet und weiter entwickelt hat. Von sichern<lb/> Gleichungen zwischen Geschichte und Sage ausgehend, kamen wir zu der<lb/> Überzeugung, daß die Sage in der Geschichte ihre Wurzeln hat, daß aber<lb/> ihre Fortbildung durch Dichtung, sei es bewußte, sei es unbewußte, besorgt<lb/> wird. Mythische Bestandteile sind der Sage zwar nicht fremd, doch liegen sie<lb/> dort, wo sie sicher nachweisbar sind, so an der Oberfläche, daß sie das Wesen<lb/> der geschichtlich-poetischen Sage nicht berühren; sie sind nur äußerlich angeknüpfte<lb/> Züge. Bisher hat man Sagen, deren geschichtlicher Ursprung nicht auf der<lb/> Hand liegt, gern aus mythischen Wurzeln erklärt; aber wir haben an einigen<lb/> Fällen, deren allmähliche Entwicklung klar vor uns liegt, beobachten können,<lb/> wie ein bestimmtes geschichtliches Ereignis den Ausgangspunkt einer Sage<lb/> bildet, die Sage später sich aber so verschiebt, daß gerade der Ausgangspunkt<lb/> gänzlich aus ihr verschwindet. Das berechtigt uns ohne Zweifel, auch Sagen,<lb/> die sich nicht ohne weiteres aus der Geschichte ableiten lassen, doch auf sie<lb/> zurückzuführen und anzunehmen, daß irgend eine dnrch Dichtung verursachte<lb/> Verschiebung den Ursprung verdunkelt habe. Auf eiuen strengen Beweis<lb/> werden wir in solchen Fällen verzichten müssen, bis uns einmal ein glücklicher<lb/> Zufall die vermißte Zwischenstufe in die Hand spielt.</p><lb/> <p xml:id="ID_469" next="#ID_470"> Jedenfalls würde es unmethodisch sein, eine deutsche Sage deshalb für<lb/> mythischen Ursprungs zu halten, weil sich der geschichtliche nicht ohne weiteres</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0150]
Sagenbildung und Sagenentwicklung
Zunächst ist der Anstoß, der darin liegt, daß die beiden Teile nur äußer¬
lich zusammenhängen, beseitigt worden; ein zweifellos nicht unbedeutender
Dichter hat die Lücke dadurch geschlossen, daß er den Untergang der Burgunden
als die Rache der Kriemhild für die Ermordung ihres ersten Gemahls auf¬
faßte. Diese Auffassung hat aber zur Folge, daß die Wünsche Etzels und
Kriemhilts bei jener Vernichtung uicht mehr einander entgegen stehen, sondern
in einander aufgehen; somit hat Kriemhild gar leine Veranlassung mehr, Etzel
deshalb zu grollen, kann ihn also auch nicht mehr ermorden. Und so haben
wir das merkwürdige und wichtige Ergebnis, daß eine Sage, die sicher von
Attilas Tode ausgeht, nach Verlauf einiger Jahrhunderte von diesem Tode
gar nichts mehr zu erzählen weiß. Später hat dieser Umstand eine Nach¬
dichtung hervorgerufen, in der ein nachgeborner Sohn Hagens die Rache an
Attila übernimmt. Ehe das aber geschah, wurde die Sage nach Vaiern über¬
tragen, etwa im zehnten Jahrhundert, und hier hat sie sich natürlich sofort
in die Dietrichsage einfügen müssen; das nötige Bindeglied war dadurch schon
gegeben, daß hier wie dort der Hunnenkönig Attila eine hervorragende Rolle
spielte. So versetzte man denn den Untergang der Vurguuden in die Zeit,
wo Dietrich an Etzels Hofe lebte, und ließ diesen, als anerkannten Haupthelden,
die Entscheidung im Kampfe bringen.
Es ist in dieser Darstellung eine große Masse wichtiger Einzelheiten un¬
erwähnt geblieben. Dennoch hoffe ich, im wesentlichen gezeigt zu haben, wie
sich die deutsche Heldensage gebildet und weiter entwickelt hat. Von sichern
Gleichungen zwischen Geschichte und Sage ausgehend, kamen wir zu der
Überzeugung, daß die Sage in der Geschichte ihre Wurzeln hat, daß aber
ihre Fortbildung durch Dichtung, sei es bewußte, sei es unbewußte, besorgt
wird. Mythische Bestandteile sind der Sage zwar nicht fremd, doch liegen sie
dort, wo sie sicher nachweisbar sind, so an der Oberfläche, daß sie das Wesen
der geschichtlich-poetischen Sage nicht berühren; sie sind nur äußerlich angeknüpfte
Züge. Bisher hat man Sagen, deren geschichtlicher Ursprung nicht auf der
Hand liegt, gern aus mythischen Wurzeln erklärt; aber wir haben an einigen
Fällen, deren allmähliche Entwicklung klar vor uns liegt, beobachten können,
wie ein bestimmtes geschichtliches Ereignis den Ausgangspunkt einer Sage
bildet, die Sage später sich aber so verschiebt, daß gerade der Ausgangspunkt
gänzlich aus ihr verschwindet. Das berechtigt uns ohne Zweifel, auch Sagen,
die sich nicht ohne weiteres aus der Geschichte ableiten lassen, doch auf sie
zurückzuführen und anzunehmen, daß irgend eine dnrch Dichtung verursachte
Verschiebung den Ursprung verdunkelt habe. Auf eiuen strengen Beweis
werden wir in solchen Fällen verzichten müssen, bis uns einmal ein glücklicher
Zufall die vermißte Zwischenstufe in die Hand spielt.
Jedenfalls würde es unmethodisch sein, eine deutsche Sage deshalb für
mythischen Ursprungs zu halten, weil sich der geschichtliche nicht ohne weiteres
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