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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sagenbildung und Sagenentwicklung

Der unverbundne erste Teil ist nun bisher mit besondrer Vorliebe aus
einem angeblichen Mythus abgeleitet worden: Siegfried soll ein Lichtheros
irgend welcher Art sein (Tag, Sonne, Frühling), der die Finsternis überwindet,
indem er den Drachen tötet, damit in den Besitz der Welt (des Schatzes und
der Brunhild) gelangt, schließlich aber den Mächten der Finsternis wieder er¬
liegt (sie töten ihn und entreißen ihm Schatz und Braut). Aber stichhaltig
ist diese Erklärung nicht: ihr steht vor allem entgegen, daß nach Überein¬
stimmung aller uns erhaltnen Darstellungen der Zank der Königinnen (und
damit der von Siegfried an Brunhild verübte Betrug) die Ermordung Sieg¬
frieds verursacht; wo fände aber dieser Zank im Mythus seine Erklärung?
Auch stellt keine unsrer alten Quellen die Verlobung mit Brunhild als eine
innere Folge der Drachentötnng dar; erst in der jüngsten Quelle, dem Liede
vom horreum Siegfried, findet sich etwas derartiges, doch ist die Jungfrau,
die hier aus der Gewalt des Drachens erlöst wird, Kriemhild, nicht Brunhild.
Dagegen spricht das älteste Zeugnis, das uns das angelsächsische Gedicht von
Beowulf darbietet, dem Siegfried Drachentötung und Hortgewinn geradezu
ab, indem es beides dem Siegmund zuschreibt, der sonst für Siegfrieds Vater
gilt, und es ist unbedingt unmethodisch, wenn man diesen Umstand damit um¬
geht, daß man das älteste Zeugnis eines Irrtums zeiht und eine Übertragung
auf den Vater annimmt, denn man darf ein älteres Zeugnis nicht auf Grund
von jüngern ablehnen.

Die landläufige mythische Erklärung ist also geradezu unwahrscheinlich.
Aber auch irgend welche andre dieser Art scheint nicht geraten, denn was an
der Siegfricdsage mythisch ist oder scheint, liegt so lose auf der Oberfläche,
daß die bei der Dietrichsage gegebne Bestimmung der Mythen in der Sage
auch hier anwendbar ist. Vor allem aber dürfen nicht Mythen, die nur in
der nordischen Darstellung auftreten, ohne weiteres als alte Bestandteile der
Sage augesehen werden, denn wenn die nordische Form mich vielfach alter¬
tümlicher ist als die deutsche, so ist sie doch gerade um zahlreiche Zusätze
mythischen Inhalts erweitert, die neuerdings als rein nordisches Gut nach¬
gewiesen worden sind, z. B. die Waberlohe und das Auftreten Odins.

Eine geschichtliche Deutung der Siegfriedsage freilich stößt auf nicht ge¬
ringere Schwierigkeiten, denn nirgends in der beglaubigten Geschichte findet sich
etwas, das man ohne weiteres als ihren Ausgangspunkt betrachten könnte.
Aber nachdem wir gesehen haben, wie ein geschichtliches Ereignis der Ursprung
einer gewaltigen Sage sein und schließlich doch durch den Gang der Ent¬
wicklung wieder aus ihr verschwinden kann, wie dürften wir da den geschicht¬
lichen Ursprung der Siegfriedsage für unmöglich erklären?

Es ist längst darauf hingewiesen worden, daß die Sicgfriedsage das wilde
Wesen der Merowingerzeit widerspiegelt; insbesondre die Gier nach Siegfrieds
großem Hort, die in der Sage vielfach die treibende Kraft ist, erinnert an die


Sagenbildung und Sagenentwicklung

Der unverbundne erste Teil ist nun bisher mit besondrer Vorliebe aus
einem angeblichen Mythus abgeleitet worden: Siegfried soll ein Lichtheros
irgend welcher Art sein (Tag, Sonne, Frühling), der die Finsternis überwindet,
indem er den Drachen tötet, damit in den Besitz der Welt (des Schatzes und
der Brunhild) gelangt, schließlich aber den Mächten der Finsternis wieder er¬
liegt (sie töten ihn und entreißen ihm Schatz und Braut). Aber stichhaltig
ist diese Erklärung nicht: ihr steht vor allem entgegen, daß nach Überein¬
stimmung aller uns erhaltnen Darstellungen der Zank der Königinnen (und
damit der von Siegfried an Brunhild verübte Betrug) die Ermordung Sieg¬
frieds verursacht; wo fände aber dieser Zank im Mythus seine Erklärung?
Auch stellt keine unsrer alten Quellen die Verlobung mit Brunhild als eine
innere Folge der Drachentötnng dar; erst in der jüngsten Quelle, dem Liede
vom horreum Siegfried, findet sich etwas derartiges, doch ist die Jungfrau,
die hier aus der Gewalt des Drachens erlöst wird, Kriemhild, nicht Brunhild.
Dagegen spricht das älteste Zeugnis, das uns das angelsächsische Gedicht von
Beowulf darbietet, dem Siegfried Drachentötung und Hortgewinn geradezu
ab, indem es beides dem Siegmund zuschreibt, der sonst für Siegfrieds Vater
gilt, und es ist unbedingt unmethodisch, wenn man diesen Umstand damit um¬
geht, daß man das älteste Zeugnis eines Irrtums zeiht und eine Übertragung
auf den Vater annimmt, denn man darf ein älteres Zeugnis nicht auf Grund
von jüngern ablehnen.

Die landläufige mythische Erklärung ist also geradezu unwahrscheinlich.
Aber auch irgend welche andre dieser Art scheint nicht geraten, denn was an
der Siegfricdsage mythisch ist oder scheint, liegt so lose auf der Oberfläche,
daß die bei der Dietrichsage gegebne Bestimmung der Mythen in der Sage
auch hier anwendbar ist. Vor allem aber dürfen nicht Mythen, die nur in
der nordischen Darstellung auftreten, ohne weiteres als alte Bestandteile der
Sage augesehen werden, denn wenn die nordische Form mich vielfach alter¬
tümlicher ist als die deutsche, so ist sie doch gerade um zahlreiche Zusätze
mythischen Inhalts erweitert, die neuerdings als rein nordisches Gut nach¬
gewiesen worden sind, z. B. die Waberlohe und das Auftreten Odins.

Eine geschichtliche Deutung der Siegfriedsage freilich stößt auf nicht ge¬
ringere Schwierigkeiten, denn nirgends in der beglaubigten Geschichte findet sich
etwas, das man ohne weiteres als ihren Ausgangspunkt betrachten könnte.
Aber nachdem wir gesehen haben, wie ein geschichtliches Ereignis der Ursprung
einer gewaltigen Sage sein und schließlich doch durch den Gang der Ent¬
wicklung wieder aus ihr verschwinden kann, wie dürften wir da den geschicht¬
lichen Ursprung der Siegfriedsage für unmöglich erklären?

Es ist längst darauf hingewiesen worden, daß die Sicgfriedsage das wilde
Wesen der Merowingerzeit widerspiegelt; insbesondre die Gier nach Siegfrieds
großem Hort, die in der Sage vielfach die treibende Kraft ist, erinnert an die


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[0147] Sagenbildung und Sagenentwicklung Der unverbundne erste Teil ist nun bisher mit besondrer Vorliebe aus einem angeblichen Mythus abgeleitet worden: Siegfried soll ein Lichtheros irgend welcher Art sein (Tag, Sonne, Frühling), der die Finsternis überwindet, indem er den Drachen tötet, damit in den Besitz der Welt (des Schatzes und der Brunhild) gelangt, schließlich aber den Mächten der Finsternis wieder er¬ liegt (sie töten ihn und entreißen ihm Schatz und Braut). Aber stichhaltig ist diese Erklärung nicht: ihr steht vor allem entgegen, daß nach Überein¬ stimmung aller uns erhaltnen Darstellungen der Zank der Königinnen (und damit der von Siegfried an Brunhild verübte Betrug) die Ermordung Sieg¬ frieds verursacht; wo fände aber dieser Zank im Mythus seine Erklärung? Auch stellt keine unsrer alten Quellen die Verlobung mit Brunhild als eine innere Folge der Drachentötnng dar; erst in der jüngsten Quelle, dem Liede vom horreum Siegfried, findet sich etwas derartiges, doch ist die Jungfrau, die hier aus der Gewalt des Drachens erlöst wird, Kriemhild, nicht Brunhild. Dagegen spricht das älteste Zeugnis, das uns das angelsächsische Gedicht von Beowulf darbietet, dem Siegfried Drachentötung und Hortgewinn geradezu ab, indem es beides dem Siegmund zuschreibt, der sonst für Siegfrieds Vater gilt, und es ist unbedingt unmethodisch, wenn man diesen Umstand damit um¬ geht, daß man das älteste Zeugnis eines Irrtums zeiht und eine Übertragung auf den Vater annimmt, denn man darf ein älteres Zeugnis nicht auf Grund von jüngern ablehnen. Die landläufige mythische Erklärung ist also geradezu unwahrscheinlich. Aber auch irgend welche andre dieser Art scheint nicht geraten, denn was an der Siegfricdsage mythisch ist oder scheint, liegt so lose auf der Oberfläche, daß die bei der Dietrichsage gegebne Bestimmung der Mythen in der Sage auch hier anwendbar ist. Vor allem aber dürfen nicht Mythen, die nur in der nordischen Darstellung auftreten, ohne weiteres als alte Bestandteile der Sage augesehen werden, denn wenn die nordische Form mich vielfach alter¬ tümlicher ist als die deutsche, so ist sie doch gerade um zahlreiche Zusätze mythischen Inhalts erweitert, die neuerdings als rein nordisches Gut nach¬ gewiesen worden sind, z. B. die Waberlohe und das Auftreten Odins. Eine geschichtliche Deutung der Siegfriedsage freilich stößt auf nicht ge¬ ringere Schwierigkeiten, denn nirgends in der beglaubigten Geschichte findet sich etwas, das man ohne weiteres als ihren Ausgangspunkt betrachten könnte. Aber nachdem wir gesehen haben, wie ein geschichtliches Ereignis der Ursprung einer gewaltigen Sage sein und schließlich doch durch den Gang der Ent¬ wicklung wieder aus ihr verschwinden kann, wie dürften wir da den geschicht¬ lichen Ursprung der Siegfriedsage für unmöglich erklären? Es ist längst darauf hingewiesen worden, daß die Sicgfriedsage das wilde Wesen der Merowingerzeit widerspiegelt; insbesondre die Gier nach Siegfrieds großem Hort, die in der Sage vielfach die treibende Kraft ist, erinnert an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/147>, abgerufen am 08.01.2025.