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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sagenbildung und Sagenentwicklung

wärts oft bezeugten Erzählung von dem Kampfe zwischen Vater und Sohn an
die Person Hiltebrands, und zwar ist die Einführung sehr geschickt gemacht:
sie ist in die Zeit der Heimkehr verlegt, wo man sich Angehörige desselben
Volkes auf beiden Kämpferparteien zu denken hat; der Sohn ist als Kind bei
der Flucht des Vaters zu Hause gelassen worden und in den neuen Verhält¬
nissen aufgewachsen; seinen Vater kennt er nicht, er hält ihn für tot. Die
Person des Sohnes ist natürlich für diesen Fall erfunden, der Name, den er
trägt, Hadubrant, nichts als eine Nachbildung des väterlichen Namens.

Die Amelungensage ist also ihrem Ursprünge nach Geschichte, ihrer Ent¬
wicklung nach Dichtung; für sie kommen nur zwei von den drei zu Anfang
erwähnten Gesichtspunkten der Sagenforschung in Betracht, der geschichtliche
und der poetische, und zwar in verschiedner Geltung, der eine für den Ursprung,
der andre für den Fortgang. Von dem dritten Gesichtspunkt, dem mythischen,
Gebrauch zu machen, hat sich bisher keine Gelegenheit geboten. Und doch
enthält die Dietrichsage auch mythische Bestandteile: eine Reihe von Gedichten,
die sich mit dem jungen Dietrich, vor seiner Vertreibung, beschäftigen, zeigen
ihn als gewaltigen Streiter im Kampfe mit übermenschlichen Wesen, Drachen,
Niesen und Zwergen. Daß hier mythische Vorstellungen hereinspielen, liegt auf
der Hand, doch braucht deshalb die Verbindung, in die Dietrich gebracht ist, an
und für sich nicht mythisch zu sein, sondern die Sache wird wohl so liegen: Drachen,
Riesen und Zwerge sind Gestalten des Volksglaubens und mindestens insofern
mythisch, als sie nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß in der Vorstellung derer
leben, die an sie glauben. Wer aber an solche Gestalten glaubt, der hält es natürlich
für möglich, daß er gelegentlich persönlich mit ihnen in Berührung kommen
kann, und sür den ist es selbstverständlich, daß die großen Helden der Vorzeit
mitunter in eine solche Lage versetzt worden sind. So weit schrumpft also,
wenigstens in der Dietrichsage, bei genauerer Betrachtung der mythische Gehalt
zusammen; eine Annahme, wie die, daß Dietrich in solchen Fällen in die Stelle
eines alten Donner- oder auch Sonnengottes eingerückt sei, ist vollkommen
überflüssig und eigentlich schon damit abgethan, ganz abgesehen von dem Um¬
stände, daß es gerade die jüngsten Dichtungen sind, die Dietrich zu mythischen
Wesen in Beziehung setzen. Es ergiebt sich also für die Amelungensage, daß
Mythen in ihr keine andre Rolle spielen als jedes beliebige andre Motiv,
das an sie angeknüpft worden ist, mit andern Worten: der mythische Gesichts¬
punkt der Sagenforschung füllt hier weg.

Nun haben wir freilich andre Sagen, bei denen der mythische Gesichts¬
punkt mit einem bessern Scheine des Rechts auftritt. Vor allem ist dies der
Fall in dem ersten Teile der Sage von Siegfried und dem Untergange der
Burgunden. Ihr wesentlicher Inhalt ist folgender: Siegfried, ein Knabe vor¬
nehmer Abkunft, wächst als Findling unter ärmlichen Verhältnissen auf. tötet,
nachdem er Herangewachsen ist. einen gewaltigen schatzhütendcn Drachen, wird


Sagenbildung und Sagenentwicklung

wärts oft bezeugten Erzählung von dem Kampfe zwischen Vater und Sohn an
die Person Hiltebrands, und zwar ist die Einführung sehr geschickt gemacht:
sie ist in die Zeit der Heimkehr verlegt, wo man sich Angehörige desselben
Volkes auf beiden Kämpferparteien zu denken hat; der Sohn ist als Kind bei
der Flucht des Vaters zu Hause gelassen worden und in den neuen Verhält¬
nissen aufgewachsen; seinen Vater kennt er nicht, er hält ihn für tot. Die
Person des Sohnes ist natürlich für diesen Fall erfunden, der Name, den er
trägt, Hadubrant, nichts als eine Nachbildung des väterlichen Namens.

Die Amelungensage ist also ihrem Ursprünge nach Geschichte, ihrer Ent¬
wicklung nach Dichtung; für sie kommen nur zwei von den drei zu Anfang
erwähnten Gesichtspunkten der Sagenforschung in Betracht, der geschichtliche
und der poetische, und zwar in verschiedner Geltung, der eine für den Ursprung,
der andre für den Fortgang. Von dem dritten Gesichtspunkt, dem mythischen,
Gebrauch zu machen, hat sich bisher keine Gelegenheit geboten. Und doch
enthält die Dietrichsage auch mythische Bestandteile: eine Reihe von Gedichten,
die sich mit dem jungen Dietrich, vor seiner Vertreibung, beschäftigen, zeigen
ihn als gewaltigen Streiter im Kampfe mit übermenschlichen Wesen, Drachen,
Niesen und Zwergen. Daß hier mythische Vorstellungen hereinspielen, liegt auf
der Hand, doch braucht deshalb die Verbindung, in die Dietrich gebracht ist, an
und für sich nicht mythisch zu sein, sondern die Sache wird wohl so liegen: Drachen,
Riesen und Zwerge sind Gestalten des Volksglaubens und mindestens insofern
mythisch, als sie nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß in der Vorstellung derer
leben, die an sie glauben. Wer aber an solche Gestalten glaubt, der hält es natürlich
für möglich, daß er gelegentlich persönlich mit ihnen in Berührung kommen
kann, und sür den ist es selbstverständlich, daß die großen Helden der Vorzeit
mitunter in eine solche Lage versetzt worden sind. So weit schrumpft also,
wenigstens in der Dietrichsage, bei genauerer Betrachtung der mythische Gehalt
zusammen; eine Annahme, wie die, daß Dietrich in solchen Fällen in die Stelle
eines alten Donner- oder auch Sonnengottes eingerückt sei, ist vollkommen
überflüssig und eigentlich schon damit abgethan, ganz abgesehen von dem Um¬
stände, daß es gerade die jüngsten Dichtungen sind, die Dietrich zu mythischen
Wesen in Beziehung setzen. Es ergiebt sich also für die Amelungensage, daß
Mythen in ihr keine andre Rolle spielen als jedes beliebige andre Motiv,
das an sie angeknüpft worden ist, mit andern Worten: der mythische Gesichts¬
punkt der Sagenforschung füllt hier weg.

Nun haben wir freilich andre Sagen, bei denen der mythische Gesichts¬
punkt mit einem bessern Scheine des Rechts auftritt. Vor allem ist dies der
Fall in dem ersten Teile der Sage von Siegfried und dem Untergange der
Burgunden. Ihr wesentlicher Inhalt ist folgender: Siegfried, ein Knabe vor¬
nehmer Abkunft, wächst als Findling unter ärmlichen Verhältnissen auf. tötet,
nachdem er Herangewachsen ist. einen gewaltigen schatzhütendcn Drachen, wird


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[0145] Sagenbildung und Sagenentwicklung wärts oft bezeugten Erzählung von dem Kampfe zwischen Vater und Sohn an die Person Hiltebrands, und zwar ist die Einführung sehr geschickt gemacht: sie ist in die Zeit der Heimkehr verlegt, wo man sich Angehörige desselben Volkes auf beiden Kämpferparteien zu denken hat; der Sohn ist als Kind bei der Flucht des Vaters zu Hause gelassen worden und in den neuen Verhält¬ nissen aufgewachsen; seinen Vater kennt er nicht, er hält ihn für tot. Die Person des Sohnes ist natürlich für diesen Fall erfunden, der Name, den er trägt, Hadubrant, nichts als eine Nachbildung des väterlichen Namens. Die Amelungensage ist also ihrem Ursprünge nach Geschichte, ihrer Ent¬ wicklung nach Dichtung; für sie kommen nur zwei von den drei zu Anfang erwähnten Gesichtspunkten der Sagenforschung in Betracht, der geschichtliche und der poetische, und zwar in verschiedner Geltung, der eine für den Ursprung, der andre für den Fortgang. Von dem dritten Gesichtspunkt, dem mythischen, Gebrauch zu machen, hat sich bisher keine Gelegenheit geboten. Und doch enthält die Dietrichsage auch mythische Bestandteile: eine Reihe von Gedichten, die sich mit dem jungen Dietrich, vor seiner Vertreibung, beschäftigen, zeigen ihn als gewaltigen Streiter im Kampfe mit übermenschlichen Wesen, Drachen, Niesen und Zwergen. Daß hier mythische Vorstellungen hereinspielen, liegt auf der Hand, doch braucht deshalb die Verbindung, in die Dietrich gebracht ist, an und für sich nicht mythisch zu sein, sondern die Sache wird wohl so liegen: Drachen, Riesen und Zwerge sind Gestalten des Volksglaubens und mindestens insofern mythisch, als sie nicht in der Wirklichkeit, sondern bloß in der Vorstellung derer leben, die an sie glauben. Wer aber an solche Gestalten glaubt, der hält es natürlich für möglich, daß er gelegentlich persönlich mit ihnen in Berührung kommen kann, und sür den ist es selbstverständlich, daß die großen Helden der Vorzeit mitunter in eine solche Lage versetzt worden sind. So weit schrumpft also, wenigstens in der Dietrichsage, bei genauerer Betrachtung der mythische Gehalt zusammen; eine Annahme, wie die, daß Dietrich in solchen Fällen in die Stelle eines alten Donner- oder auch Sonnengottes eingerückt sei, ist vollkommen überflüssig und eigentlich schon damit abgethan, ganz abgesehen von dem Um¬ stände, daß es gerade die jüngsten Dichtungen sind, die Dietrich zu mythischen Wesen in Beziehung setzen. Es ergiebt sich also für die Amelungensage, daß Mythen in ihr keine andre Rolle spielen als jedes beliebige andre Motiv, das an sie angeknüpft worden ist, mit andern Worten: der mythische Gesichts¬ punkt der Sagenforschung füllt hier weg. Nun haben wir freilich andre Sagen, bei denen der mythische Gesichts¬ punkt mit einem bessern Scheine des Rechts auftritt. Vor allem ist dies der Fall in dem ersten Teile der Sage von Siegfried und dem Untergange der Burgunden. Ihr wesentlicher Inhalt ist folgender: Siegfried, ein Knabe vor¬ nehmer Abkunft, wächst als Findling unter ärmlichen Verhältnissen auf. tötet, nachdem er Herangewachsen ist. einen gewaltigen schatzhütendcn Drachen, wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/145>, abgerufen am 08.01.2025.